Die Frau, die sich nicht umdrehte
Johanna sollte an diesem Nachmittag im heißen August den zehnten Geburtstag feiern. Für die Party ging sie mit ihren Eltern einkaufen.
Während die Mutter vor dem Supermarkt die Lebensmittel in die Taschen packte
und der Vater die Kiste mit dem Mineralwasser schulterte, lief Johanna schon
voraus, Richtung Wohnhaus. Sie überquerte hüpfend die Fahrbahn, hinter ihr
kreischte jemand auf, Reifen quietschten, es krachte und knallte.
Erschrocken drehte sich das Kind um und sah eine Menge Blut über den Asphalt rinnen, dazwischen lag zwei Tote: Johannas Eltern. Während der Beerdigungszeremonie fasste Johanna einen Entschluss. Sie würde ab nun stets nach vorne schauen und sich niemals mehr umdrehen.
So hielt es Johanna die nächsten Jahre. Als sie mit 18 durch die Tür des Waisenhauses auf die Straße trat, konnte sie nicht sehen, dass die Zurückbleibenden ihr nachwinkten. Sie ging vorwärts, immer nur vorwärts. Ihre Zielstrebigkeit trug Früchte, Johanna machte Karriere in einer politischen Fraktion. Als sie jedoch Kompromisse schließen sollte, die Schaden für Menschen und Natur bedeuteten, weigerte sie sich und wurde gefeuert.
Sie wanderte durchs Land, immer geradeaus, ließ das, was geschehen war, hinter sich, erfreute sich an den Blumenwiesen, dem Himmel, an allem, was ihr begegnete. Schließlich endete ihr Weg vor einer unüberwindlichen Mauer. Johanna wusste, ihre Weigerung hatte nichts genützt, es gab immer jemanden, der bereit war, Mauern zu bauen.
Zurück wollte sie nicht. Aber sie konnte auch nicht vorwärts. Sie blieb stehen. Trank die Wassertropfen, die der Regen in den Mauerritzen hinterließ, aß den sandigen Mörtel, wenn Hunger sie plagte. Manchmal stellten gutherzige Menschen ihr einen Teller mit Essen hin. Da das aber hinter ihrem Rücken geschah, konnte sie nicht davon essen.
Viele Jahre stand sie knapp vor der wuchtigen Mauer. Um ihre Stimmbänder geschmeidig zu halten, redete sie mit den Steinblöcken.
„Dreh doch um“, knarzte die Mauer staubig. Johanna erklärte, warum das nicht möglich war. Sie hatte schon viel von dem Putz verzehrt, Regengüsse hatten die Steinblöcke saubergewaschen.
„Du musst jemanden holen, der den Mörtel erneuert“, maulte die Mauer.
„Du weißt, dass ich das nicht tun kann.“ Johanna stand und stand und stand. Sie erzählte der Mauer von der wunderbaren Landschaft, die durch die Sturheit der Erbauer zerteilt worden war. Ihre Stimme erklang laut und klar, sie sprach gegen das Steinmonster, das von Tag zu Tag mehr bröckelte.
Und eines Tages hörte Johanna von drüben Tumult. Lachen, Musik, Klopfen und Scharren. Der Quader, den sie so lange besprochen hatte, regte sich, wurde weggezogen, und in der Öffnung erschien ein rotbackiges Männergesicht. „Hallo!“, sagte es. In dem Moment hub Geplapper und Jubel hinter Johanna an, eine Flut von Menschen drängte sich in ihrem Rücken.
Der freundliche Mann in der Luke rief um Hilfe, schon sah Johanna viele Hände durch das Loch, die klopften und kratzten, Steinquader um Steinquader aus der Mauer hoben, bis ein Durchgang entstand, durch die nun der Menschenstrom – Johanna an der Spitze – auf die andere Seite der Mauer floss.
Die Leute von hüben und drüben lagen sich in den Armen, Tränen der Freude glänzten in ihren Augen.
Johanna war so müde, dass sie wankte.
Starke Arme umfassten sie von hinten, eine Männerstimme, jene, die durch das Loch in der Mauer fröhlich „hallo“ gerufen hatte, sagte: „Das hast du gut gemacht, zum Steine erweichen gut!“ Dann ließ er sie los.
Und dann blickte Johanna zurück.
Da war kein Blut, keine toten Eltern, kein Lastwagen, nur freie Menschen.
Und vor ihr stand ein Kerl, kräftig, mit rosiger Haut, der die Arme ausbreitete und sagte: „Komm schon! Ich zeige dir die Rückseite der Welt.“
Erschrocken drehte sich das Kind um und sah eine Menge Blut über den Asphalt rinnen, dazwischen lag zwei Tote: Johannas Eltern. Während der Beerdigungszeremonie fasste Johanna einen Entschluss. Sie würde ab nun stets nach vorne schauen und sich niemals mehr umdrehen.
So hielt es Johanna die nächsten Jahre. Als sie mit 18 durch die Tür des Waisenhauses auf die Straße trat, konnte sie nicht sehen, dass die Zurückbleibenden ihr nachwinkten. Sie ging vorwärts, immer nur vorwärts. Ihre Zielstrebigkeit trug Früchte, Johanna machte Karriere in einer politischen Fraktion. Als sie jedoch Kompromisse schließen sollte, die Schaden für Menschen und Natur bedeuteten, weigerte sie sich und wurde gefeuert.
Sie wanderte durchs Land, immer geradeaus, ließ das, was geschehen war, hinter sich, erfreute sich an den Blumenwiesen, dem Himmel, an allem, was ihr begegnete. Schließlich endete ihr Weg vor einer unüberwindlichen Mauer. Johanna wusste, ihre Weigerung hatte nichts genützt, es gab immer jemanden, der bereit war, Mauern zu bauen.
Zurück wollte sie nicht. Aber sie konnte auch nicht vorwärts. Sie blieb stehen. Trank die Wassertropfen, die der Regen in den Mauerritzen hinterließ, aß den sandigen Mörtel, wenn Hunger sie plagte. Manchmal stellten gutherzige Menschen ihr einen Teller mit Essen hin. Da das aber hinter ihrem Rücken geschah, konnte sie nicht davon essen.
Viele Jahre stand sie knapp vor der wuchtigen Mauer. Um ihre Stimmbänder geschmeidig zu halten, redete sie mit den Steinblöcken.
„Dreh doch um“, knarzte die Mauer staubig. Johanna erklärte, warum das nicht möglich war. Sie hatte schon viel von dem Putz verzehrt, Regengüsse hatten die Steinblöcke saubergewaschen.
„Du musst jemanden holen, der den Mörtel erneuert“, maulte die Mauer.
„Du weißt, dass ich das nicht tun kann.“ Johanna stand und stand und stand. Sie erzählte der Mauer von der wunderbaren Landschaft, die durch die Sturheit der Erbauer zerteilt worden war. Ihre Stimme erklang laut und klar, sie sprach gegen das Steinmonster, das von Tag zu Tag mehr bröckelte.
Und eines Tages hörte Johanna von drüben Tumult. Lachen, Musik, Klopfen und Scharren. Der Quader, den sie so lange besprochen hatte, regte sich, wurde weggezogen, und in der Öffnung erschien ein rotbackiges Männergesicht. „Hallo!“, sagte es. In dem Moment hub Geplapper und Jubel hinter Johanna an, eine Flut von Menschen drängte sich in ihrem Rücken.
Der freundliche Mann in der Luke rief um Hilfe, schon sah Johanna viele Hände durch das Loch, die klopften und kratzten, Steinquader um Steinquader aus der Mauer hoben, bis ein Durchgang entstand, durch die nun der Menschenstrom – Johanna an der Spitze – auf die andere Seite der Mauer floss.
Die Leute von hüben und drüben lagen sich in den Armen, Tränen der Freude glänzten in ihren Augen.
Johanna war so müde, dass sie wankte.
Starke Arme umfassten sie von hinten, eine Männerstimme, jene, die durch das Loch in der Mauer fröhlich „hallo“ gerufen hatte, sagte: „Das hast du gut gemacht, zum Steine erweichen gut!“ Dann ließ er sie los.
Johannas Körper erzitterte, ein Teil in ihr wollte weiter
vorwärts ziehen, der andere sich nach dem Mann umwenden. Minutenlang dauerte
der innere Kampf, er drehte ihr den Magen um. Das Krachen, Knallen, Quietschen und natürlich der Schrei,
den sie damals ausgestoßen hatte, hallte in ihren Ohren. Aber darunter mischte
sich noch ein anderer Klang. Ein sanfter Ton, hinter ihr.
„Komm, komm, komm.“
Und dann blickte Johanna zurück.
Da war kein Blut, keine toten Eltern, kein Lastwagen, nur freie Menschen.
Und vor ihr stand ein Kerl, kräftig, mit rosiger Haut, der die Arme ausbreitete und sagte: „Komm schon! Ich zeige dir die Rückseite der Welt.“
(c) ELsa Rieger (Text und Foto)
13 comments:
dieser text überzeugt mich wieder vollends.
gut gemacht, liebe elsa.
mehr davon.
gruß,
mo
Ergreifend schön, liebe ELsa!
..grüßt dich Monika herzlich
Liebe Mo, das freut mich sehr, danke! Ob ich mehr davon kann ... ich bemühe mich.
Liebe Monika, ganz lieben Dank!
Schön!
Liebe Grüße
ELsa
Liebe Elsa!
Deine Geschichte berührt, rüttelt aber auch auf und regt zum Nachdenken an. Einfach großartig, wie du mit wenigen Worten so eine aussagekräftige Geschichte wieder hinbekommen hast. Ich liebe deinen Schreibstil. Bitte mehr davon.
Herzliche Grüße und Bussi, Ulrike! ♥
Herzlichen Dank, liebe Ulrike, das freut mich!
Sei lieb gegrüßt,
Elsa
Ein Thema das immer noch viele Menschen berührt. Das Freude und inzwischen für Manchen auch Entäuschung auslößt.
Deine Sensibilität, dieses schon oft beschriebene Thema, mal ganz anders und optimistisch zu sehen berührt mich sehr.
Herzliche Grüße
Dagmar
Liebe Dagmar, ja, so ist es. Und vielen Dank für dein liebes Lob!
Ganz liebe Grüße
ELsa
Liebe Elsa,
das ist toll geschrieben!
... habe dir vor ein paar Wochen im Forum eine PN geschrieben, weil ich hier in deinem Blog keine direkte Kontaktmöglichkeit finde. Schaust du bitte einmal. Danke.
Lieben Gruß
Jorge D.R.
Danke, lieber Jorge!
Ich habe dir geschrieben.
Liebe Grüße
ELsa
liebe Elsa ....
komm, komm, komm....!!! diese Worte beinhalten Zukunft .. bedeuten g e h e n ... "vor - wärts - gehen" und das nicht alleine ...wie schön die andere Seite der Welt sein kann merkst du spätestens dann, wenn ein JEMAND die Arme ausbreitet und dich mit-nimmt ... wunderbare Geschichte ... k o m m ... schreib´mehr, bitte ... Ursa
Liebe Ursa, komm, komm, komm ... so sollen wir durchs Leben gehen.
Vielen Dank für den lebendigen, kraftvollen Komm. Und ja, ich schreibe mehr von den Miniaturen, immer, wenn mir eine einfällt, versprochen.
Herzensgruß
ELsa
Elsa, ich freue mich sehr darauf! grüße Dich ganz besonders: lieb, nett, freundlich, intensiv, vorwärts-schauend, wie auch immer ... Ursa
Lieber Ursa, fein, fein, fein! Elsa
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