Leseprobe
»Geht’s
halbwegs, Bruderherz?«
»Mein
Magen. Die Zauberer. Du weißt schon«, sagt er mit schwerer Zunge. Flüstert:
»Hast du die Rassel?«
Die
haben ihn vollgepumpt mit Scheiße. Unten fährt ein Krankentransport vor, zwei
Sanitäter steigen aus, lachen laut. Mich friert’s.
»Ja,
ich hab sie, kriegst du, wenn du rauskommst. Wollen wir rein? Ist kalt.«
Mein
Bruder drückt die Zigarette im übervollen Standaschenbecher aus, steht sehr
langsam auf und schlurft nach drinnen, ich ihm hinterher. Wir gehen zum anderen
Ende des Flurs.
»Mein
Zimmer und mein Mitbewohner.« Lässt sich auf sein ungemachtes Bett fallen.
Vorm
Fenster sitzt ein Junge in Shorts auf einem Stuhl. Seine Beine sind übersät mit
Narben und offenen Wunden, die eindeutig von ausgedämpften Zigaretten stammen.
Ich
möchte nur noch davonrennen.
Dann
Tobis Blick. »Nimmst du mich mit?«
»Ich
tu, was ich kann. Jetzt werde ich mal mit dem Arzt reden, lauf mir nicht weg.«
»Haha,
du Lustige.« Er ringt sich ein Lächeln ab. »Du kannst mich nicht bei den
anderen lassen. Ich hab doch nur dich.«
Beruhigt
mich etwas, ganz hinüber ist er doch noch nicht durch die Medikamente,
gleichzeitig wühlt es mich auf.
Von
Geburt an bestand eine besondere Beziehung zu Tobi, dem Nachzügler. Als
Mittelkind war ich für die Zwillinge unsichtbar, die waren mit sich und ihrer
Pubertät beschäftigt. Michael war uninteressant, aber der kleine Tobi...
Ich
kann mich erinnern, wie ich ihn in meinen Puppenwagen gepackt habe, besser
gesagt, mit Ach und Krach reingestopft.
»Ja
so was, Hanni? Hast auch ein Baby bekommen wie deine Mama?« Die Nachbarin steht
vor mir und versucht, in meinen Puppenwagen zu schauen. Lasse sie aber nicht.
Die ist sonst böse und schimpft immer, wenn ich im Treppenhaus singe. Mama
sagt, ich muss freundlich sein, sie ist so alt wie meine Oma, und Omas brauchen
einfach mehr Ruhe.
»Ich
habe ein Baby!« Schaukle am Wagen. »Und ich hab nicht so viel Zeit, gleich muss
ich stillen.«
»Na
ja, bestimmt reicht es, wenn du deiner Puppe ein Fläschchen gibst.«
Mann,
die Frau Schweiger hat überhaupt keine Ahnung, wie man mit Babys umgeht. Die
kann keine Oma sein.
»Hat
dir denn dein Pupperl auch der Storch gebracht?«
»Welcher
Storch? Die Babys kommen aus dem Bauch, genau dort raus, wo der Papa seinen
Penis reinmacht.«
Jetzt
wird die Frau Schweiger aber rot. Die hat nicht gedacht, dass ich schon so
schlau bin. Der Tobi regt sich auch darüber auf, der schreit nämlich jetzt. Ich
versuche schnell, meinen Puppenwagen wegzuschieben, aber Frau Schweiger ist
schneller. Sie nimmt die Decke weg und schaut mich mit großen Augen an. Das
darf sie nicht! Meine Decke, mein Baby!
Hole
sie mir wieder. »Hab doch gesagt, dass ich ein Baby habe.« Schnell hau ich mit
Tobi ab, ehe sie noch was sagen kann.
Tobi
ist mein Baby geblieben. Halt nur größer geworden. Ich denke, so wie ich für
ihn empfinde, fühlen sich Muttergefühle an. Mütter haben Löwenherzen und genau
mit dem werde ich jetzt für ihn kämpfen. »Bis
gleich, Tobi, ich mach das schon.«
Am
Stützpunkt frage ich nach Doktor Schulz. (...)
Illustration: Gabriele Merl
Cover: DaylinArt
Das ist ein Auszug aus meinem Herzensbuch. Ich habe lange an dem Familienroman geschrieben, nicht allen gefiel meine Erzählsprache hier, die ich aber ganz bewusst eingesetzt habe. Das Buch gibt es als e-book, Taschenbuch und hart gebunden.
Klappentext:
Wird es leichter, wenn sich die beiden schwarzen Schafe aus einer
Dramafamilie ausklinken und auf einen eigenen Weg begeben? Wenig ist von
der einst heilen Familienwelt geblieben: Der Vater lebt seine
Homosexualität aus, die Mutter verwirklicht sich als Malerin und drei
der fünf erwachsenen Kinder ziehen ihr eigenes Ding durch. Hanna und ihr
erkrankter Bruder Tobi fallen durch alle Raster. Als die Familie Tobi
in eine Einrichtung abgeben will, nimmt ihn Hanna zu sich, ohne die
Folgen zu erahnen – Schlag folgt auf Schlag. Manchmal hilft Lachen, um
zu verkraften, was einem widerfährt. Manchmal klingt es verzweifelt,
manchmal erleichtert. Manchmal lachen wir, weil das Leben ist, wie es
ist, und wir dennoch nicht in Mutlosigkeit versinken sollen.
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