23. September 2020

Hanna und die Zauberer - Leseprobe

 

 Leseprobe

»Geht’s halbwegs, Bruderherz?«
»Mein Magen. Die Zauberer. Du weißt schon«, sagt er mit schwerer Zunge. Flüstert: »Hast du die Rassel?« 
Die haben ihn vollgepumpt mit Scheiße. Unten fährt ein Krankentransport vor, zwei Sanitäter steigen aus, lachen laut. Mich friert’s. 
»Ja, ich hab sie, kriegst du, wenn du rauskommst. Wollen wir rein? Ist kalt.« 
Mein Bruder drückt die Zigarette im übervollen Standaschenbecher aus, steht sehr langsam auf und schlurft nach drinnen, ich ihm hinterher. Wir gehen zum anderen Ende des Flurs. 
»Mein Zimmer und mein Mitbewohner.« Lässt sich auf sein ungemachtes Bett fallen. 
Vorm Fenster sitzt ein Junge in Shorts auf einem Stuhl. Seine Beine sind übersät mit Narben und offenen Wunden, die eindeutig von ausgedämpften Zigaretten stammen. 
Ich möchte nur noch davonrennen. 
Dann Tobis Blick. »Nimmst du mich mit?« 
»Ich tu, was ich kann. Jetzt werde ich mal mit dem Arzt reden, lauf mir nicht weg.« 
»Haha, du Lustige.« Er ringt sich ein Lächeln ab. »Du kannst mich nicht bei den anderen lassen. Ich hab doch nur dich.« 
Beruhigt mich etwas, ganz hinüber ist er doch noch nicht durch die Medikamente, gleichzeitig wühlt es mich auf.
Von Geburt an bestand eine besondere Beziehung zu Tobi, dem Nachzügler. Als Mittelkind war ich für die Zwillinge unsichtbar, die waren mit sich und ihrer Pubertät beschäftigt. Michael war uninteressant, aber der kleine Tobi...
Ich kann mich erinnern, wie ich ihn in meinen Puppenwagen gepackt habe, besser gesagt, mit Ach und Krach reingestopft.
»Ja so was, Hanni? Hast auch ein Baby bekommen wie deine Mama?« Die Nachbarin steht vor mir und versucht, in meinen Puppenwagen zu schauen. Lasse sie aber nicht. Die ist sonst böse und schimpft immer, wenn ich im Treppenhaus singe. Mama sagt, ich muss freundlich sein, sie ist so alt wie meine Oma, und Omas brauchen einfach mehr Ruhe.
»Ich habe ein Baby!« Schaukle am Wagen. »Und ich hab nicht so viel Zeit, gleich muss ich stillen.« 
»Na ja, bestimmt reicht es, wenn du deiner Puppe ein Fläschchen gibst.« 
Mann, die Frau Schweiger hat überhaupt keine Ahnung, wie man mit Babys umgeht. Die kann keine Oma sein. 
»Hat dir denn dein Pupperl auch der Storch gebracht?« 
»Welcher Storch? Die Babys kommen aus dem Bauch, genau dort raus, wo der Papa seinen Penis reinmacht.« 
Jetzt wird die Frau Schweiger aber rot. Die hat nicht gedacht, dass ich schon so schlau bin. Der Tobi regt sich auch darüber auf, der schreit nämlich jetzt. Ich versuche schnell, meinen Puppenwagen wegzuschieben, aber Frau Schweiger ist schneller. Sie nimmt die Decke weg und schaut mich mit großen Augen an. Das darf sie nicht! Meine Decke, mein Baby! 
Hole sie mir wieder. »Hab doch gesagt, dass ich ein Baby habe.« Schnell hau ich mit Tobi ab, ehe sie noch was sagen kann. 
 
Tobi ist mein Baby geblieben. Halt nur größer geworden. Ich denke, so wie ich für ihn empfinde, fühlen sich Muttergefühle an. Mütter haben Löwenherzen und genau mit dem werde ich jetzt für ihn kämpfen. »Bis gleich, Tobi, ich mach das schon.« 
Am Stützpunkt frage ich nach Doktor Schulz. (...)

Illustration: Gabriele Merl
Cover: DaylinArt
 
Das ist ein Auszug aus meinem Herzensbuch. Ich habe lange an dem Familienroman geschrieben, nicht allen gefiel meine Erzählsprache hier, die ich aber ganz bewusst eingesetzt habe. Das Buch gibt es als e-book, Taschenbuch und hart gebunden.
 

 
Klappentext:  
Wird es leichter, wenn sich die beiden schwarzen Schafe aus einer Dramafamilie ausklinken und auf einen eigenen Weg begeben? Wenig ist von der einst heilen Familienwelt geblieben: Der Vater lebt seine Homosexualität aus, die Mutter verwirklicht sich als Malerin und drei der fünf erwachsenen Kinder ziehen ihr eigenes Ding durch. Hanna und ihr erkrankter Bruder Tobi fallen durch alle Raster. Als die Familie Tobi in eine Einrichtung abgeben will, nimmt ihn Hanna zu sich, ohne die Folgen zu erahnen – Schlag folgt auf Schlag. Manchmal hilft Lachen, um zu verkraften, was einem widerfährt. Manchmal klingt es verzweifelt, manchmal erleichtert. Manchmal lachen wir, weil das Leben ist, wie es ist, und wir dennoch nicht in Mutlosigkeit versinken sollen.
 

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