29. Mai 2008




Pfingstrosenträume

Auf dem niedrigen Couchtisch steht ein glatter weißer Krug.

Heuer blühen die Pfingstrosen wirklich zu Pfingsten. Ein seltenes Ereignis in diesem Klima, denn im allgemeinen ist es Ende Mai zu kühl, um die Knospen zum Aufspringen zu bewegen.
Der Krug ist dicht gefüllt mit den großen Blütenballen. Einige sind zartrosa, andere tiefrot, zur Mitte hin fast schwarz. Schwer neigen sich die Blumenköpfe über den Rand des Gefäßes.

Ein kleiner Junge von eineinhalb Jahren, der – angespornt von den Bravo-Rufen der Erwachsenen – seine ersten selbständigen Schritte in dieser Wohnung versucht, wackelt auf den kurzen, dicken Beinchen in das sonnendurchflutete Zimmer.
Wie Daunenfedern kleiner Küken kringelt sich noch spärliches Goldhaar im Nacken des Babys. Das Kind lacht, wie es durchs Zimmer torkelt. Der Junge versteht nicht, worüber die Erwachsenen lachen, doch er findet es hübsch, wie sie die Lippen öffnen, die Zähne zeigen. Er selbst hat erst acht kleine weiße Perlen im Mund. Ihm gefallen die kehligen Laute, die mit dem Lachen aus den großen Menschen hervorkollern. Es sind ähnliche Töne, wie er selbst sie erzeugt. Das Kind merkt, dass die Großen Spaß daran haben, wenn es sie nachahmt. Sie lachen dann entzückt weiter.
Noch findet er die ganze Welt zum Lachen, noch kennt er keine bösen Blicke, herben Worte. Man nähert sich ihm mit zärtlich glucksenden Stimmen. Er weiß nichts von Hunger und Durst – ehe er etwas davon verspüren könnte, wird ihm schon ein Fläschchen mit warmer, süßer Milch gereicht. Seine blauen Babyaugen schließen sich im Genuss der wohlschmeckenden Flüssigkeit zu kleinen Schlitzen. Seine Haut ist rosig und glatt.

In ein, zwei Jahren wird der Junge weiße Zeichenblätter mit üppigen, bunten Blumen bemalen, zwischen denen Strichmännchen stehen – Papa, Mama und ich – wird er erklären. Die Streitigkeiten der Eltern finden hinter geschlossenen Türen statt, und nur, wenn er schläft.

Das Baby entdeckt die rosarote Blütenpracht. Es brabbelt und streckt die Arme danach aus.

Wenn er später den Kindergarten besucht, wird es die ersten Kratzer auf der Seele geben. Vielleicht wird er sich nach der Zuneigung eines Kindes sehnen, das ihn nicht leiden kann; er wird es akzeptieren müssen und dann dasselbe einem kleinen Mädchen antun. Das Mädchen wird weinen, weil es die zugefügte Kränkung nicht verstehen kann.

Später, in der Schule – er weiß bereits um Kriege und Grausamkeiten durch das Fernsehen, und es ist ihm auch nicht verborgen geblieben, dass sich in der Familie ähnliche Kämpfe zutragen – hat seine Seele schon mehrere schwarze Tupfen abbekommen, klein wie Sommersprossen, aber ebenso dauerhaft. Er zögert, wenn ihm ein Fremder ein Bonbon anbietet – man weiß schließlich nicht, ob man dafür eine Gegenleistung erbringen muss. Gekränkt steckt der Fremde die Süßigkeit selbst in den Mund und geht seiner Wege.
Der Junge wird viel lernen während der Schulzeit; Tritte einstecken, Tritte austeilen, vor Lehrern buckeln (nach einigen Strafarbeiten kann man das); er wird gefälschte Unterschriften unter schlechte Zensuren setzen, weil er die traurigen Blicke der Eltern – hoffentlich wird noch was aus dem Jungen – unerträglich findet.
Und wenn ihm unerwiderte Liebe fast das Herz zerreißt, wird er trotzdem cool und lässig nicht einmal hinsehen, wenn die Angebetete vorüberschwebt. Er wird einen Joint zur Beruhigung kiffen. Die Eltern werden dahinter kommen und zitternd hoffen, dass er seinem Körper nichts Schlimmeres antut.

Die Pfingstrosen sind voll erblüht. Da fährt ein Windstoß durch das Fenster herein, streift die Blumen. Zwei rosa Blütenblätter lösen sich und fallen auf den Tisch. Erstaunt schaut der Junge die losgetrennten Blätter an, dann hebt er den Kopf zu den Erwachsenen, die hoch über ihm auf ihn herablächeln. Das Kind zeigt fragend auf die Blumen – dass Bälle sich zerteilen können, ist ihm neu.

Zum Leidwesen der Eltern wird der Sohn zu einem radikalen Soziologiestudenten. Er ist aktenkundig bei der Polizei, weil er keine Demonstration gegen Hunger und Krieg auslässt.
Vielleicht hätten wir nicht alles fernhalten sollen von ihm, überlegen die Eltern, dann hätte er sich besser damit anfreunden können, dass der Anteil der Zerstörer dieser Welt nun mal hoffnungslos groß ist ...

Er wird in eine Wohngemeinschaft von Hausbesetzern ziehen, weil er die sorgenvollen Gesichter der Eltern nicht mehr sehen kann. Nach Beendigung des Studiums schließt er sich einer Gruppe von Entwicklungshelfern an und reist nach Afrika.

Mit dreißig kommt er zurück, die Seele verdunkelt vom Kummer, den hilflosen, nutzlosen Anstrengungen der letzten Jahre.
„Die Babys sterben wie die Fliegen an den ausgezehrten Brüsten ihrer Mütter. Weiß der Kuckuck, wohin das viele Spendengeld verschwindet. Diese Welt ist dreckig.“ Sein Lächeln ist bitter.

Zwei unsichere Babyschritte trennen den kleinen Jungen noch von dem Krug. Er bewältigt sie ohne fremde Hilfe. Langsam streckt er die Arme aus – er wird die Rosen abreißen, fürchten die Erwachsenen.
Doch er legt die kleinen, runden Hände behutsam um eine der Blüten. Verwundert befühlt er die kühle, seidige Pfingstrosenhaut. Ein süßes Lächeln spielt um den winzigen Mund, sanft streichelt das Baby den rosigen Ball.


by ELsa

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Deine Pfingstrosenträume werden bei mir sehr gelobt!!!

Gruß
Petros

Elsa Rieger hat gesagt…

Wie schön! Danke, Petros, da muss ich gleich schauen gehen .....

LG
ELsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

Lesbares - Sichtbares

Follower

Über mich

Blog-Archiv