27. Mai 2008



Vor mir liegt ein leeres Blatt Papier …

… und wartet, während ich das Glas Wasser rechts davon in die Schreibtischecke stelle. Ich rücke den Stuhl zurecht und setze mich. Mein Blick streift durch den Raum, bleibt an dem Bild über dem Kamin hängen.
Eine Familie beim Picknick im Grünen. Eingerahmt von Birken und Weiden sitzen oder liegen Menschen auf karierten Plaids. Die Erwachsenen lächeln in die Kamera, die Kinder schneiden Grimassen. Das Foto ist an die fünfzig Jahre alt, verblasst jedes Jahr ein wenig mehr, die Konturen der Gesichter sind kaum noch zu erkennen. Doch ich erinnere mich genau an die Aufnahme und wie jeder darauf aussah.
In der Mitte der Gruppe ein weißes Tuch, auf dem ein Brotkorb steht, Teller mit gebratenen Hühnerkeulen, Käse, Gläser mit Saft oder Bier. Ich, ein kleiner, heller Fleck auf der Wiese zwischen Vater und Mutter, ging damals noch nicht zur Schule. An den Sonntagen im Sommer fuhr die Familie vormittags in den Grünen Prater: Tanten, Onkel, Großmütter, Großväter, Eltern und Kinder.
Die Jesuitenwiese. Fette Damen in Unterkleidern, die Herren in Trikotunterhemden; 1955 gab es wieder genügend zu essen, aber für Badeanzüge war kein Geld übrig.
Meine Familie zog sich nie aus.
„Grauenhaft ist das!“, sagte meine Großmutter schaudernd, angesichts der Zurschaustellung überquellender Fleischmassen. Der Großvater zwirbelte seinen Schnurrbart. „Nun ja, manches ist recht nett …“ Dafür bekam er einen Klaps aufs Knie. Er senkte den Blick.
Nach der Mahlzeit liefen wir Kinder zum Sandkasten, den Rutschen und Schaukeln. Nicht aus Kunststoff wie heute; schlecht gehobelte Bretter, weswegen man sich ständig Splitter einzog. Unsere Mütter zupften sie mit den umsichtig mitgebrachten Pinzetten aus den nackten Hintern der Sprösslinge, klebten Pflaster auf die Wunden – bis zum nächsten Mal.
An manchen Abenden wollten wir nicht in die Badewanne, weil die Kratzer im heißen Wasser gemein brannten.

Das Blatt Papier blitzt mich an. Los! ermuntert es mich. Ich nehme den Füllfederhalter in die Hand, schraube ihn auf. Ich werde als Überschrift Verfügung schreiben und darunter: Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte …

Meine Familie war verrückt. Keine Allerweltsfamilie, jedes einzelne Mitglied voller Marotten, einfach unmöglich. Und schrecklich liebenswert.
Onkel Hugo war vier Jahre alt, als er seinen Cousin – meinen Vater – mitsamt dem Wickelkissen aus dem Babykorb warf, auf der Suche nach dem neuen Erdenbürger. Später rächte sich mein Vater dafür, indem er vorgab, Regenwürmer zu verspeisen, dabei versteckte er sie in der Hand und warf sie heimlich zu Boden. Hugo schluckte tapfer einen hinunter. Seine Mutter, meine Großtante Ada, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Das machte sie auch, als mein Vater ihn – den sie unbeirrbar Bubi nannte, obwohl er bereits hoch in den Fünfzigern war – als Obertrottel bezeichnete, weil er beim Weihnachtsessen das Gebiss aus dem Mund nahm.
„So schmeckt es besser“, erklärte Hugo, unbekümmert die befremdeten Blicke der Festgäste ignorierend.

Dann könnte ich formulieren … habe ich mich entschieden, meinem Leben …
Ich löse die Tabletten im Glas auf, das Wasser wird milchig.

Tante Ida, Adas Schwester, Soubrette an einem Operettentheater, war der Skandal der Familie – sie bekam ein uneheliches Kind. Weit über Achtzig ertrug sie das Altwerden nicht länger und steckte den Kopf in den Gasherd.

… ein Ende zu setzen. Das klingt sehr elegant. Ich schaue die tödliche Mischung im Glas an.

Wir waren eine große Familie, nahmen Anteil aneinander. Geriet jemand in Not, so wie Ida, wurde geschimpft, geweint und dann geholfen. Oder als Ada verhindern wollte, dass Bubi mit fast sechzig seine Jugendliebe zum Altar führte. Gleichzeitig mit ihm, der die Lippen zum glücklichen Ja öffnete, holte sie tief Luft. Meine Eltern stürzten sich auf sie, Vater hielt ihr den Mund zu und Mutter zwickte sie in den Arm – ihr Nein verpuffte zu einem leisen Schnaufen.
Ada hatte vorgehabt, Karriere als Opernsängerin zu machen. Bei ihrem ersten Auftritt wirbelte sie auf die Bühne und verfing sich in der Schleppe ihres Kleides, landete bäuchlings auf den Brettern, die ihre Welt sein sollten. Oft hörte ich sie im Alter Arien summen, wenn sie ihre Löckchen mit dem Brenneisen kringelte.

Ich bin nun auch alt und unnütz geworden. Von den Menschen auf dem Bild an der Wand lebt kaum einer mehr.
Ich setze die Feder auf das Papier. Sie ist eingetrocknet. Ich nippe an dem Glas. Das Gebräu schmeckt widerlich bitter.
Meine Mutter kommt mir in den Sinn, mir ist, als hörte ich ihre Worte: „Solange wir an unsere Toten denken, leben sie in unseren Herzen weiter, mit all ihren Schrullen, ihrem Lachen, ihren Tränen, mit ihrer Liebe.“
Einmal hat sie zu mir gesagt: „Ich werde immer deine Mama sein, gleichgültig, wie alt du bist. Und ich bin so stolz auf dich.“
Ich schraube den Füller zu, schaue auf das leere Blatt. Den Inhalt des Glases gieße ich ins Klo.
Morgen werde ich damit beginnen, die Geschichte meiner Familie zu Papier zu bringen. Sichtbar machen.


by ELsa
Gemälde: Vincent van Gogh - Vier verblühte Sonnenblumen

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Liebe Elsa,

heftig gut!
Manchmal gibt es doch noch etwas Interessantes zu tun...

..grüßt Monika

Elsa Rieger hat gesagt…

Danke liebe Monika, das freut mich, denn Prosa ist in Blogs nicht so beliebt, braucht länger zum Lesen :-)

Und ja, man kann immer was zu tun haben, nicht wahr?

Herzliche Grüße,
Elsa

Anonym hat gesagt…

Berührt.

Gruß
Petros

Elsa Rieger hat gesagt…

Vielen Dank fürs Lesen, Petros

*strahl*

LG
ELsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

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