25. März 2013



Wenn ich einmal sterbe


Eines Nachts fahre ich von einem Gedanken gepeinigt hoch, der mir beim Lesen gekommen ist – ich überflog gerade den Bestseller Shades Of Grey, den mir jemand verehrt hatte (hätte er es nur nicht getan, das Buch ist schlecht) – und springe aus dem Bett.

Der Gedanke frisst sich durch meine Gehirnwindungen, senkt sich in die Brust, tropft weiter abwärts und setzt sich in der Schamgegend fest.
Scham! Die Quintessenz dieses nächtlichen inneren Aufschreis.
Die Rahmenhandlung: Was, wenn ich aus heiterem Himmel stürbe? Es wäre an sich wünschenswert, ganz ohne vorhergehendes Siechtum abzuhauen. Das hieße aber auch, ohne Vorbereitung, ohne einen letzten Willen zu hinterlassen, und, jetzt kommt’s, ohne die Corpora delicti früherer Zeiten vernichtet zu haben, geschreddert, verbrannt, restlos alle gemacht, sodass kein Fitzelchen mehr daran erinnert.
Eine Klosterschwester kann gewiss völlig entspannt in den Himmel verschwinden, aber ich? Meine Nachfahren würden die Grabstätte, unter der ich zerfiele, niemals mit Blümchen schmücken – sie kämen höchstens, um draufzuspucken.

Nachdem ich also schon blitzwach bin, zwänge ich mich in die Abstellkammer und hieve die Kartons mit den Beweisen vom obersten Regalbrett. Ich schleppe sie auf den Wohnzimmerteppich und verfluche meine sentimentale Ader, die Schuld dran ist, dass ich jetzt zwischen Haufen von Fotos, Briefen, Andenken im Schneidersitz hocke, um meine schlimmsten Jugendsünden zu vernichten. Erst hole ich mir aber ein Glas Rotwein, weil mich das immer beruhigt, dann beginne ich die Berge zu durchforsten ...

Gegen drei Uhr morgens und nachdem die Flasche Wein geleert ist, sitze ich vor drei Stapeln, die mein Leben dokumentieren.
Der erste beinhaltet meine Kindheit. Blondes Lockenköpfchen, das zwei Babykatzen der Kamera entgegenhält, Foto mit Schultüte, Hefte, seitenweise mit undefinierbarer Krakelschrift, gespickt mit roten, ungeduldigen Korrekturen aus dem Füller der Lehrerin, manchmal ein gewalttätiger, fetter 5er darunter. Und zwischendrin ein – mein – erster Liebesbrief  eines sechsjährigen Mitschülers: Du bist die schönste Frau von der ganzen Welt! Gerührt öffne ich noch eine Flasche des vorzüglichen Rotweins.
Im zweiten Stapel häufen sich Liebesbriefe und schlechte Schulnoten. Dazu kommen ein Stammbuch mit rosenumrankten Freundschaftsbekundungen und meine Tagebücher. Das erste endet mit dem Eintrag: Heute habe ich endlich meine Jungfräulichkeit verloren, Gott sei Dank! Der Daniel ist zwar ein Obertrottel, aber wurscht. Hauptsache, die Sache ist erledigt.
Dem Datum nach war ich fünfzehn Jahre alt.
„Prost!“, sage ich zum Sofa, auf das ich zu krieche, den Packen meiner Teenagerzeit unterm Arm, das Glas balancierend. Liegend stöbere ich weiter. Dramatischer Liebeskummer im zweiten Band der Aufzeichnungen, immer schien ich mich in den falschen Kerl verknallt zu haben, ich arme Sau. 
Trost fand ich, wie ich mich dunkel erinnerte, in den Armen meiner besten Freundin. Wir übten auch die Sexualität miteinander, da wir dachten, vielleicht würde es uns Liebeskummer ersparen. Aber es stellte sich heraus, dass wir zu hetero waren, es half uns nicht weiter. Wir litten und rissen uns zur Kompensationen irgendwelche Jungen in der Disco auf, egal, wie sie aussahen. Ich sehe die Fotos durch. Sie wurden in der verruchtesten Diskothek der damaligen Zeit geschossen. Auf den meisten sehe ich wie schwer unter Drogen aus, unmöglich, das der Nachwelt zu hinterlassen! Es gab weiß Gott nicht viele Substanzen auf dem Markt, aber manche Appetitzügler hatten phänomenale Wirkung. Sie hielten wach, man diskutierte schlaflos über alles Mögliche, während man eine Runde nach der anderen um den Häuserblock zog, um endlich so müde zu werden, dass man schlafen gehen konnte. 
Nach der zweiten Flasche Wein rutschen mir die Top-Secret-Belege vom Leib. Den Rest werde ich später... nehme ich... mir... vor... 

Kichern. Kichern! Kichern? 

Ich schlage die Augen auf. Sie brennen. Mein Kopf pocht. Sehr langsam drehe ich ihn dem Gekichere zu. Lore, meine halbwüchsige Tochter, wühlt in meinem Geheimsten! Alle Kraft zusammennehmend rapple ich mich auf. 
„Was machst du da?!“ 
„Ach Mama, was warst du doch für ein heißer Feger, wow! Und sag bitte nie mehr zu mir, ich soll mich wie eine Dame benehmen, ja?“ Sie grinst mich frech an. 
Ich sinke geschlagen aufs Sofa zurück. 
Ich wusste es.

(c) Elsa Rieger

8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Absolut niedlich! Gruß Micha (silent sea)

Dagmar hat gesagt…

Liebe Elsie,
Oh, oh ... ein heißer Feger! :-)
Locker geschrieben. Das Lesen macht viel Spaß.

LG
Dagmar

Elsa Rieger hat gesagt…

Danke, lieber Micha!

:-)

Elsa Rieger hat gesagt…

Danke, lieber James! Und nein, wird nicht vernichtet, ist eh zu spät, hihi.

Liebe Grüße

Malou hat gesagt…

Welch ein Titel! Besorgt beginne ich zu lesen..und dann endet alles in einem hellen Lachen.
Danke, liebe Elsa

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Malou, hihi, dann ist die Geschichte gut gelungen!

Dankesgrüße,
ELsa

Regenkatse hat gesagt…

An diesem Text habe ich Dich erkannt ...
Tolltolltoll ...

Liebe Grüße
Kissa Lluviagata ♥

Elsa Rieger hat gesagt…

Das freut mich, liebe Kissam vielen Dank!

Liebe Grüße
ELsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

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