30. März 2007


Fantasia ist arbeitslos

Gedankenverloren spielte Fantasia mit den Zweigen der Trauerweide, die wie Vorhänge aus grünen Samtschnüren sacht hin und her schwangen.
„Was ist los mit dir, Fantasia?“, murrte die Trauerweide.
„Mir ist sterbenslangweilig ...“ Fantasia stöhnte.
„Dann unternimm doch etwas! Warum gehst du nicht hinaus in die Welt, wie früher und verzauberst die Menschen, wie es deine Aufgabe ist?“
Die Trauerweide war sehr alt. Ihre Stimme ähnelte einem Ächzen und Knarren, das Fantasia noch ungeduldiger machte.
„Was soll ich in der Welt? Das, was da draußen geschieht, ist es, was mich ruiniert!“, schrie sie. Die Langeweile machte dem Ärger Platz.
Fantasia wuchs. Bald überragte sie die mächtige Weide, so sehr plusterte der Zorn sie auf.
Je nach Gemütszustand konnte sie klein oder groß sein. Jetzt blähte sie sich auf, um die eigene Angst vor dem Widersacher Zeitgeist zu vertreiben. Sie verwandelte sich in einen Riesen mit Bartstoppeln am Kinn, mit Händen und Füßen, groß wie Mühlräder.
Wütend stampfte sie um die Weide herum und fletschte ihre Zähne. Fantasias Schritte ließen die Erde erbeben.
„Hör sofort auf damit! Meine Wurzeln lösen sich aus dem Boden!“ Die Trauerweide rang flehend die Äste. Fantasia hielt inne und schrumpfte auf Baumhöhe zurück.
„Und nimm dein hässliches Riesengesicht auch weg! Ich sagte doch bloß, dass du in die Welt gehen sollst. Was erfüllt dich daran nur mit solchem Zorn?“, fragte die Weide.
„Die Welt!“, heulte Fantasia so jämmerlich, dass es der Trauerweide das hölzerne Herz zusammenschnürte. War Fantasia guter Dinge, leuchtete sie in allen Farben des Regenbogens. Jetzt bestand sie nur noch aus grauen Schlieren.
„Ich bin unendlich traurig, Weide. Wie eine Elfe ohne Flügel oder ein Einhorn ohne Horn.“ Sie sank am Stamm der Trauerweide zu Boden. Wie ein dünnes, verblichenes Nachthemd lag Fantasia da. Mit mutloser Stimme sagte sie: „Die Welt hat keine Zeit mehr für mich. Es gab eine Zeit, da haben die Menschen nach mir Ausschau gehalten, meine Vielfarbigkeit, mein Glitzern und Funkeln ersehnt. Sie haben mir zugesehen, wie ich mit Kindern spielte, ausgelassen, voller Freude und sie haben sich davon anstecken lassen, haben wundervolle Bilder gemalt, spannende Geschichten geschrieben oder zu Herzen gehende Symphonien komponiert. Und nun?“
„Du musst die Menschen eben wieder aufwecken!“, schlug die Weide vor.
„Und wie??? Die Kinder starren auf die Bildschirme ihrer Playstations oder Gameboys. Tippe ich ihnen auf die Schulter, schütteln sie mich ab wie ein lästiges Insekt. Früher saßen die Menschen nach der Arbeit zusammen. Sie erzählten sich Märchen oder berichteten von Abenteuern. Sie lauschten den Nachtigallen, betrachteten den Mond, träumten ... Heute schaufeln sie nach dem mikrowellengewärmten Essen Popcorn und Chips vor dem Fernseher in den Mund, bis ihnen die Augen zufallen. Wer von ihnen macht denn noch Hausmusik? Liest? Handarbeitet? Dazu hat kaum einer mehr Zeit oder Lust. Ich bin arbeitslos.” Fantasia weinte.
Der alte Baum knarrte mitfühlend.
Zwei Feldhasen hoppelten heran, schnupperten an dem verblichenen Nachthemd, das vor Verzweiflung und Mutlosigkeit bebte.
Einer von ihnen mümmelte: „Liebe Fantasia, uns fehlen schon so lange Elfen, Feen und Zwerge, weil du dich nur noch mit deinem Elend beschäftigst und im Selbstmitleid erstickst. Ich frage mich, wie sollen die Menschen ihre Fantasie wieder entdecken, wenn du die Zauberwesen unter Verschluss hältst? Du gibst ihnen ja überhaupt keine Chance!“
„Weder den einen noch den anderen.“, warf der Baum ein.
„Ach ihr!“, seufzte sie.
Die Weide sprach: „Du bist unsere Königin, hast du das vergessen? Nur du hast die Fähigkeit, Zauber zum Leben zu erwecken. Einst warst du das wandelbarste Wesen zwischen Himmel und Erde! Manche sahen dich als Lied, für andere warst du Poesie. Doch sieh, was nun aus dir geworden ist – ein fadenscheiniges Nachthemd!“
Fantasia war zu geschwächt, um zu erröten, stattdessen überzog nur zartes Rosa ihr Gesicht.
Die Worte rüttelten sie auf. Ihr kam eine Blumenelfe in den Sinn und schon beim nächsten Augenaufschlag landete das Elflein auf einer Margeritenblüte, winkte ihr zu und rief: „Danke, Fantasia, ich fürchtete schon, du würdest uns für immer im Kerker deiner düsteren Gedanken vermodern lassen. Kannst du die anderen nicht auch befreien? Nur, weil du arbeitslos geworden bist, heißt das doch noch lange nicht, dass wir auch zur Untätigkeit verdammt werden.“
Fantasia streckte sich und veränderte ihre Form, wurde zu einem Tropfengebilde, ähnlich einer Dolde voller glitzernder Perlen in einem Hellgrün der Hoffnung. Rosa und ein Hauch von Violett frischten ihr Aussehen auf.

Fantasia fragte: „Ihr meint, es würde für den Anfang reichen, wenn ich die Wesen der Fantasie für uns selbst wieder rufe?“
Weide, Hasen und die Blumenelfe nickten eifrig.
Fantasia sprach weiter, während immer mehr Farben um sie herum flirrten: „Das würde bedeuten, es ist ganz egal, wie viele Wesen unsere Kräfte nutzen wollen, Hauptsache, wir haben Spaß dabei!“
Die Blumenelfe erhob sich von der Margerite und flog zu Fantasia. Sie landete auf der kleinen Goldkrone, die mittlerweile die Tropfenspitze krönte. „Also hopp, hopp, mach es für dich und für uns“, sagte sie und kitzelte mit den durchsichtigen Flügeln Fantasias Nasenspitze. Diese musste heftig niesen.
Die Explosion setzte alle eingesperrten Zauberwesen frei. Sie atmeten erleichtert auf, klopften sich gegenseitig auf die Schulter, schwirrten und hüpften vor Freude über die ganze Waldlichtung.
Schon bald begannen die Zwerge Ordnung zu schaffen. Sie schleppten verfaultes Laub und dürre Äste weg, damit daraus wertvoller Humus würde.
„Endlich wieder etwas zu tun“, sagten sie zueinander. „Bin ja schon fast verblödet beim Nasebohren.“
Die Blumenelfen trugen den Blütenstaub und die Tautropfen von einer Wiesenblume zur anderen. Die Feen schwangen ihre Zauberstäbe und heilten kranke Tiere und Pflanzen.
Das Fantasievolk wieselte und wuselte herum. Es tat, was es immer schon getan hatte. Der Kerker der düsteren Gedanken Fantasias war bald vergessen.
Als dann eine Familie ihr Sonntagsausflug hierher führte, schillerte Fantasia bunt wie eh und je.

„Wie schön es doch hier ist!“, rief die Mutter.
„Psst! Vielleicht sehen wir ja eine Elfe. Aber du musst still sein.“, sagte das kleine Mädchen. Da steckte ihr Bruder den Gameboy weg und betrachtete aufmerksam die Umgebung. Ein Schmetterling flatterte an seiner Nase vorbei. Oder war es eine Elfe?

Viele Jahre später sagte die Weide an einem heißen Sommertag, als Fantasia träge in ihrem Schatten ruhte: „Es lohnt sich immer, seine Ideen zu verwirklichen.“
„Genau.“, murmelte die Fantasie zufrieden.
Sie sahen den beiden Kindern von damals zu, die immer wieder hierher zurückkehrten und nun ihren Sprösslingen die Liebe zur Natur in die Herzen pflanzten.

Leise kicherte es im Gras.

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Ich wünsche allen meinen LeserInnen
ein Frohes Osterfest!

ELsa Rieger

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

ELsa, eine wundervolle Geschichte. Möge Fantasie ewig ihre Farben erhalten!

Ich hab an Michael Endes "Unendliche Geschichte" denken müssen. Dort war es die ganze Welt Fantasien, die dem Untergang geweiht war. Aber sie wurde gerettet.

Retten wir alle die Fantasie, unterstützen wir sie!

Lieben Gruß
Uta

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Uta,

Ganz herzlichen Dank! Ich freu mich gerade bei dieser Geschichte, dass sie gelesen wird.

Ja, lasst uns die Fantasie nicht verloren gehen!

Lieben Gruß
ELsa

Anonym hat gesagt…

wie hübsch!
habs zwar erst heute entdeckt, aber das mindert die freude daran absolut nicht.
und immerhin habe ich keinen gameboy, aber einen haufen fantasie, wenn auch manchmal ein wenig eindimensional ;-)))
bussibussi

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Lylo,

Danke dir! Und ja, das kann man wohl sagen, dass du viel Fantasie hast, richtungsweisend in der Erotik ;-)

LG
ELsa

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