1. Juli 2010




Wehe, wenn sie losgelassen


Wer mit den Wölfen heult, wird
über kurz oder lang von ihnen zerrissen.



„Du weißt, dass ich Zwangsfeierlichkeiten nicht aushalte“, sagte Esther.
„Was sollte ich tun, Schatz? Wir sind als Paar eingeladen. Wenigsten ist es nur ein Verbrüderungstreffen zwischen rot und schwarz, um die Koalition zu feiern. Das ist anders als sonst, wenn es um parteiinterne Aktivitäten ging. Meine Position ist ohnehin gefährdet, die Jungen rücken nach, ich stehe auf dünnem Eis, das jederzeit einbrechen kann. Bitte.“
Esther erhob sich aus dem Lehnsessel, ging zum Fenster. Draußen herrschte Schneegestöber, wie schon seit vielen Tagen. Typisch Februar – Karnevalszeit. Wie sie diesen Mummenschanz verabscheute! Feuchtfröhlichkeit, Helau und Alaaf.
„Esther, das Wochenende auf dem Land wird vorübergehen.“ Pierre bettelte.
Mit einer Handbewegung deutete Esther das Victory-Zeichen an – sie wollte ihn nicht enttäuschen.
„Ich bin dir dankbar. Sehr“, sagte er.

Esther und Pierre waren seit zwanzig Jahren verheiratet. Er bekleidete als Roter das Amt des Stellvertreters eines schwarzen Bezirksvorstehers. Er wäre gern akademischer Maler geworden, hatte stattdessen Politikwissenschaften studiert. Aus Familientradition. Schon Pierres Vater und Großvater waren in der roten Fraktion tätig gewesen.
Auch Esther verfügte über ein rotes Herz, doch es entsetzte sie, wie die einstige Vision des sozialistischen Gedankens zu Vetternwirtschaft und Privilegienstadel verkam. Ihr Mann glaubte immer noch an sozialistische Ideale und kämpfte dafür.
„Du stehst auf verlorenem Posten“, betonte Esther aufs Neue. „Ein Ritteressen im Kostüm – was für eine Idee!“ Sie beobachtete eine Gruppe Maskierter, die johlend die Straße überquerte. Einer schlug die Faust in den Rücken seines Nebenmanns, der einknickte und auf die Knie fiel. Alle schütteten sich aus vor Lachen.
„Wie dünn die Schicht der so genannten Zivilisation ist, Tünche. Darunter brodeln Missgunst, Gewalt und Schadenfreude“, murmelte Esther.

Die nächsten Tage beschäftigte sie sich mit der Kostümbeschaffung. In einer Woche sollte das Burgfest stattfinden.
Ihr großer, dünner Mann in den Fünfzigern betrachtete sich im Spiegel, der Ritterhelm kollidierte mit der Brille – Pierre war stark kurzsichtig und ohne sie fast blind; beim Einzugsdefilee würde er sie absetzen müssen. Das Kettenhemd hing armselig an seinem Körper herab. Lachend kramte Esther eine rote Vorhangkordel aus ihrem Fundus und band sie ihm um die Taille. In den schwarzen Strumpfhosen wirkten seine Beine wie Stecken, und die Schnabelschuhe erinnerten an Vogelfüße.
„Lach mich nicht aus, du! Ich habe doch keine Wahl, wenn dieses Ding das einzige ist, was ich in der Fasching-Hochblüte finden konnte.“ Pierre schämte sich.
„Bleiben wir eben daheim.“ Esther zuckte mit den Achseln.
„Können wir nicht.“ Pierre schlurfte zum Sofa und setzte sich, um ihr bei der Anprobe zuzusehen. Sie hatte für sich ein Magdkostüm gewählt. Ein weit schwingender, bodenlanger Rock, in der Taille dicht gekräuselt, mit dazugehörigem geschnürtem Mieder. Eine tief ausgeschnittene Leinenbluse entblößte ihre Schultern. Das halblange, aschblonde Haar steckte sie mit Kämmen hoch.
Pierres Augen leuchteten. „Dass Frauen so viel schöner sind ...“
Esther lächelte und fand plötzlich Spaß an der Verkleidung, fast keimte Freude auf bei dem Gedanken an den Ausflug. „Vielleicht wird es ja doch nicht so schlimm ...“, sagte sie.

Früh am nächsten Morgen traf man sich vor der Bezirksstelle der Partei. Der Bus stand schon bereit, der die zwanzig Funktionäre, Bezirksräte an den Ort des Grauens – wie Esther die Burg nannte – bringen würde.
Kalter Wind trieb Eisregen wie Nadelstiche in die Gesichter, dennoch herrschte erwartungsvolle Freude, deutlich gemacht durch dröhnendes Hallo bei jedem Neuankömmling, besonders lautes Lachen und schlüpfrige Bemerkungen oder dem beliebten Erzählen von zweideutigen Witzen. Esther hoffte auf ein nettes, stilles Zimmer in der Burg, in das sie sich nach Wahrung ihrer Anwesenheitspflicht zurückziehen konnte.
Nur wenige Genossen hatten Frauen dabei; sie waren ihnen auf dem steilen Weg zur politischen Karriere abhanden gekommen, wie Esther aus Pierres Erzählungen wusste.
Der vorzeitig einsetzende körperliche Verfall war nicht zu übersehen. Nach oben buckeln und abwärts treten, hinterlässt Spuren, dachte Esther. Sie setzte sich im Bus weit nach hinten, rutschte tief in ihren Sitz.
Die Whiskyflaschen kreisten. Die Luft war dick vom Rauch der Zigarren. Esther schloss die Augen und versperrte die Ohren, so dass die Zotenreißerei zu gedämpftem Murmeln verebbte.
Halbtrunken erreichte die Truppe das Ziel.
Angeschlagen wankten die Reisegenossen auf das Burgtor zu. In der Rezeptionshalle traf man auf die Gegenpartei. Freundliches, wenn auch reserviertes Schulterklopfen und Händeschütteln hub an.
Bis zum Essen blieb noch reichlich Zeit zum Ausnüchtern, entweder durch Schlaf oder durch Bewegung an der frischen Luft auf einem Rundgang durch die historische Anlage.
Esther und Pierre entschieden sich für eine Ruhestunde im Bett.
Fast gleichzeitig fuhren beide hoch, als es laut an der Zimmertür klopfte: „Hopp, hopp, raus aus dem Gemach, ihr Schlafmützen!“
Esther erkannte die Stimme. „Ja, wir kommen sofort, Hermann. Wir ziehen uns nur um“, rief sie.
Er war derjenige, der sich einmal im Jahr diese Zusammenkünfte ausdachte, um den Genossen und Genossinnen auch privaten Kontakt zu ermöglichen. Mit Feuereifer ließ sich der Intimus und Privatsekretär des Bezirksvorstehers immer wieder Neues, Exotischeres einfallen. Letztes Jahr war es das Spielkasino gewesen, davor ein Wochenende auf einer abgeschiedenen Schutzhütte, die drei Stunden Steilhangwandern erforderte, und noch ein Jahr früher hatte er den genialen Einfall gehabt, die Genossen zum Komasaufen auf dem Ballermann zu verdonnern.

Die kostümierten Politiker waren schon versammelt und bereiteten sich auf das Defilee vor, als Esther und Pierre in der Eingangshalle ankamen. Allen voran sollte der Bezirksvorsteher im Königsgewand in den Speisesaal Einzug halten, an seiner Seite die Gemahlin, danach die roten und schwarzen Ritter mit den Gefährtinnen.
Nur Hermann reihte sich nicht ein, Hans Dampf in allen Gassen, dachte Esther. Er hüpfte, ganz in seiner Rolle aufgehend, mit der Digitalkamera um die Versammelten herum. Mit Fanfarenklängen aus der Konserve begann der Einmarsch. Das Eichentor wurde geöffnet, gab den Blick auf den Saal frei. Holztische und dreibeinige Schemel. Am Gemäuer waren Wimpel und Fahnen angebracht. Über den Tischen hingen elektrifizierte Petroleumlampen, die für schummriges Licht sorgten. Aus einem Podest war ein Pranger errichtet worden, daneben stand ein Korb mit fauligen Früchten.
„Wahnsinnig gemütlich ...“, sagte Esther zu Pierre, während die Gruppe in einer Polonaise den Saal umrundete, damit Hermann Fotos schießen konnte.
„Typisch Mittelalter“, entgegnete ihr Mann mit ironischem Unterton.
Anschließend bat der Hofnarr zu Tisch.
Pierre nahm den Helm ab und setzte seine Brille auf. „Prost, Mahlzeit“, meinte er.
Esther lachte.
Pagen trugen riesige Platten herein und stellten sie auf dem Tisch in der Mitte des Saals ab. Fleischberge. Knusprige Haxen, dicke Würste, gebratene Hühner, dazwischen Kartoffelknödeln. Holzschüsseln wurden verteilt – es gab kein Besteck – ein Mahl, archaisch und primitiv, fand Esther. Die Damen und Herren stürzten sich gierig auf die dampfenden Fleischstücke und beluden ihre Schüsseln. Man hob die Bierhumpen, prostete einander zu und riss mit Händen und Zähnen die fetttriefende Beute in Stücke.
„Ich glaube nicht, dass ich das essen kann.“
„Ich suche dir etwas Feines aus, ja?“, erbot sich Pierre.
Hermann war auch gerade dabei, seine Schüssel zu füllen und Esther sah, wie er ihrem Mann den Ellenbogen in die Rippen stieß: „Na du! Hast du dein jämmerliches Outfit von der Müllhalde?“ Er grinste hämisch, eifrig bemüht, das dünne Eis um den nicht korrumpierbaren Konkurrenten zu zerschlagen.
„Ja, klar“, antwortete Pierre lakonisch und zog ein Brathuhn aus den Fleischmassen.
Wieder rammte ihn der Widerling. „Deine schnuckelige Esther sieht ja heute zum Anbeißen aus! Wenn sie nur nicht so spröde wäre ...“
Esther wusste, dass Hermann täglich auf Pierres Rücktritt hoffte – dann würde er endlich seine Position bekleiden können.
Sie sah, wie Pierre ihm fest in die Augen blickte. Er sagte: „Wenn du mich noch einmal stößt oder dumm über meine Frau sprichst, dann ...“
„Drohst du mir? Du Hampelmann“, entgegnete Hermann und warf sich in die Brust. „Na, was ist dann, hä? Was ist dann? Feigling!“, rief er Pierre nach, der mit den gefüllten Schüsseln zu seinem Tisch zurückging.
„Es ist unglaublich!“, sagte Esther, besorgt über die wächserne Gesichtsfarbe ihres Mannes. „Ich möchte ihm eine scheuern!“
„Gib Ruhe, es ist nichts.“ Er riss dem Brathuhn einen Flügel aus und begann zu essen. Esther bedrängte ihn nicht weiter und biss in einen Hähnchenschenkel.

Die Pagen räumten die Reste ab und brachten Wasserschalen mit Zitronenscheiben.
Esther und Pierre wuschen sich die Hände darin, manche tranken das Zitronenwasser, besoffen wie sie waren, was die beiden amüsierte.
Als Hermann auf sie zuwankte, zerfiel das Lächeln in ihren Gesichtern. Der Hofnarr stützte sich schwer auf der Tischplatte ab.
„Esther-Maus, du bist ja richtig sexy heute“, lallte er und fiel mit dem Kopf fast in ihren Blusenausschnitt.
Esther schüttelte den Kopf. „Hermann, du bist besoffen, du solltest dich eine Stunde schlafen legen“, sagte sie und rückte mit dem Schemel ein Stück von ihm ab.
Er schnaubte: „I wo, mein Täubchen, jetzt wird’s erst richtig knuffig! Wir werden zu Rittern geschlagen oder müssen an den Pranger, je nachdem, wie wir die Aufgaben lösen."
Als wären diese Worte der Auftakt gewesen, verstummte die Renaissancemusik aus den Boxen, und herein kamen Musikanten mit Trommeln, Fiedeln, Tamburins. Das Quartett war schmuck anzusehen in grünen Hosen und braunen Wildlederwesten.

Hermann klatschte in die Hände, verlor den Halt, taumelte und landete auf dem Boden. Da lag er wie ein Käfer auf dem Rücken, brüllend vor Lachen. Nachdem Pierre und Esther nichts taten, und er den Versuch, alleine hochzukommen, aufgeben musste, kroch er auf allen Vieren weiter.
Das Orchester begann zu spielen, einige der Genossen fassten ihre Frauen an den Hüften und tanzten.
„Siehst du, Liebes, so übel ist es doch gar nicht, wie wir dachten“, meinte Pierre.
Esther nickte und forderte ihn zum Tanz auf.
Plötzlich wurde die Musik unterbrochen. Der Hofnarr stand auf der Bühne und schrie ins Mikrofon: „Grüß Gott in alter Freundschaft! Es ist mir eine Freude, euch ... äh ... euch begrüßen zu können zur ... äh ... Veranstaltung unserer ... unserer Bezirksfraktion der sozialistischen und der dremo ... demokraschischen Parteien zur ... quasi Besiegelung unseres ... ähh ... Paktes ... ja ... keine Chance der re... raktioniären Front ... nieder mit der na... nationalischischen Rassistenbrut ... ja ... also herzlich Will .... kommen ... ja!“
Er intonierte die Internationale: „Brüder, hört die Signale, auf zum großen Gefecht ... alle mitsingen ...“
Mit glänzenden Gesichtern und glasigen Augen ließen sich die Genossen und Christdemokraten mitreißen. Man prostete sich zu, versicherte sich ein konstruktives Miteinander. Die Stimmung heizte sich auf.
Hermann brüllte: „Die Fahnen hoch, die Reihen dicht geschlossen, marschieren wir im festen Schritt und Tritt, Kameraden ...“
Und alle sangen fröhlich mit. Esther traute ihren Ohren nicht. Sie war in einem Albtraum gelandet! Die Verbrüderten stampften singend durch den Saal. Wenn ein Lied zu Ende war, kreischte der Hofnarr die Anfangszeilen des Nächsten. Lili Marlen. Oh du schöhöhöner Wehehesterwald. Es zittern die morschen Knochen ...

Alle waren eins, ein monströser Klumpen, aufgepeitscht und ohne Verstand.
Esther schrie ihrem Mann ins Ohr: „Ich muss jetzt gehen, das ertrage ich nicht!“ Ohne seine Antwort abzuwarten, verließ sie den Saal.
Sie legte sich auf das Bett, ihr war übel. Ein Teil ihrer Vorfahren hatte im Konzentrationslager Mauthausen den Tod gefunden.
Als sie erwachte, war das Bett neben ihr leer. Vier Uhr. Esther stand auf, etwas war passiert, sie spürte das, warf den Mantel über ihren Pyjama und verließ das Zimmer. Ging die Stiege hinab zum Festsaal.
„Pierre?“ Sie tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn.
Ihr Mann hing festgezurrt am Pranger, Kopf und Hände im Holz eingeklemmt. Esther glaubte durchzudrehen, heiß strömte Wut durch ihren Körper, das Herz schlug bis zum Hals.
„Pierre!“, schrie sie, rannte auf ihn zu. Sie befreite ihren Mann aus der qualvollen Lage, half ihm, sich hinzusetzen.
Er musste seit Stunden da gestanden haben, seine Hände waren blutleer, der Nacken steif. Sie hatten ihn mit dem verfaulten Obst beworfen. Esther weinte still, während sie den Dreck aus Pierres Haaren pflückte. Der Hals war ein einziger Bluterguss.
Das Schlimmste war der Ausdruck in seinen Augen.

Als sie in ihr Zimmer kamen, graute der Morgen. Stumm begannen sie den neuen Tag.


(c) ELsa Rieger

4 Kommentare:

Dagmar hat gesagt…

Liebe Elsa,

eine schlimme Geschichte. Leider immer noch recht lebensnah, dass diese noch notwendig sind Der Faden bis zum Ende gefällt mir. Das hast du wieder super geschrieben.

Liebe Grüße
Dagmar

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Dagmar,

Ja, die sterben wohl nicht aus...

Vielen Dank und liebe Grüße
ELsa

Phivos Nicolaides hat gesagt…

Have a great new week ahead dear friend Elsa. Philip xoxo

Elsa Rieger hat gesagt…

You too, Phivos!

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

Lesbares - Sichtbares

Follower

Über mich

Blog-Archiv