24. Juli 2012



Wenn der Schwan singt ...

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen:

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehen, Flut um Flut;

während er unendlich still und sicher
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.

Rainer Maria Rilke, 1905/06, Meudon


Der See befand sich in einem Wildpark. Sie hatte den ganzen Tag die Tiere betrachtet. Im Hirschgehege ging es munter zu, da die männlichen Jungtiere so etwas wie Armdrücken mit ihren kleinen Geweihen veranstalteten. Wer ist schöner, wer ist stärker.
„Ja, früh übt sich, wer ein Mann ...“, lächelte sie.
Im Wildschweinbereich grunzte es, manchmal quiekte eine Sau laut auf und biss eine andere weg. Der Keiler war separiert.
„Weiber ...“, murmelte sie. Es gab auch pfeifende Murmeltiere, meckernde Bergziegen und vieles mehr hier um den See herum.
Nun war sie bei diesem Schwan gelandet. Erst kürzlich hatte sie wieder das Schwanengedicht von Rilke in den Händen gehalten. Als sie es seinerzeit in der Schule durchgenommen hatten, sagte der Deutschlehrer: „Also ich find, die singen nicht, die pfeifen.“

Sie selbst pfiff aus dem letzten Loch, wie man so sagt. Ihre Zeit war abgelaufen, der Krebs fraß ihre Lunge auf. Sie setzte sich auf die Bank und sah dem Schwan zu, wie er seine Runden schwamm. Einer der Flügel hing seltsam geknickt herunter. Der Schwan neigte immer wieder seinen Kopf in die andere Richtung, um das Gleichgewicht zu halten, schien es ihr.
Dann kippte er tatsächlich zur Seite, sie sprang auf. Er kam wieder in die Ausgangsstellung und schwamm nun dort ans Ufer, wo sie stand. Etwas stimmte nicht mit dem Tier, sie spürte es. Langsam, den Flügel nachziehend, torkelte der Schwan auf den Kiesstrand, kauerte sich hin. Verbarg für einen Moment seinen Kopf unter dem gesunden Flügel. Dann streckte er ihn aber in die Höhe, ganz lang wurde der schlanke Hals.
Und der Schwan sang! Er pfiff nicht, wie der Lehrer damals gesagt hatte, nein, er sang. Und alle Tiere verstummten im Umkreis. Es war völlig still, auch sie hielt den Atem an, so königlich erklang das Lied des Schwans. Dann starb er. 
Wenn der Schwan singt, schweigen die Tiere. Sie hustete.

(c) ELsa Rieger (Text und Foto)

12 Kommentare:

herbst.zeitlosen hat gesagt…

schön, das gedicht von rilke, ich kannte es noch nicht. und dein text dazu, sehr gelungen. lg monika

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Monika, danke sehr!

Ja, ich fand das gedicht auch so wunderbar, da fiel mir dann diese Kurzprosa ein dazu.

Liebe Grüße
ELsa

lintschi hat gesagt…

wieder einer dieser tollen kurzprosa-texte von dir, die ich so sehr liebe!

glg lintschi

isabella kramer - veredit hat gesagt…

Meine Güte, wie wundervoll und ergreifend und doch so durch und durch im Hier und Jetzt. Kein Zuviel an Pathos oder Rührung, einfach das Leben und Sterben - basta ...

und diese intensive Kraft deiner Worte!!

liebe Grüße

isabella

syntaxia hat gesagt…

Ergreifend!!

..grüßt dich Monika herzlich

Anonym hat gesagt…

Hm ... singend sterben lernen - eine Lebensaufgabe -

LG
Barbara

Elsa Rieger hat gesagt…

Vielen herzlichen Dank, liebgewonnene Damen, die Reaktionen erfreuen mich sehr!

Liebe Grüße
Eure ELsa

Ulrike Jansen hat gesagt…

Liebste Elsa!
Du berührst mich mit deinen wunderschönen Geschichten immer tief in meinem Herzen/Seele ♥
Danke dafür ♥
Ich schaue zu dir auf!
Bussi deine Ulrike :-*

Edith hat gesagt…

Elsie,

das rührt, ja, Isabella hat es schon geschrieben, es ist das Leben....

Und du hast es aus dem Herzen geschrieben, anrührende Worte gefunden, ach, du Vielseitige, duuu, lächel...

ich drück dich lieb
deine Rachel

Elsa Rieger hat gesagt…

Oh, mit soviel Echo hab ich garnicht gerechnet.

Lieben Dank, Ulrike, Rachel, ich bin froh!

Busserln
ELsie

Ernst hat gesagt…

Ich kannte dieses Gedicht von Rilke nicht. Du hast einen einfühlsamen Kurztext dazu aus dem Leben der Tiere - es könnten auch Menschen sein - geschrieben. Chapeau. Ernst

Elsa Rieger hat gesagt…

Lieber Ernst, ich danke dir herzlich! Ganz liebe Grüße, Elsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

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