Die verlorenen Kinder
Clara erwachte schnatternd
vor Kälte. Der Wind pfiff durch den Brückenbogen, unter dem sie sich in Fetzen
gehüllt fand. Sie schob den Pappkarton beiseite, den irgendjemand auf sie
gelegt hatte, damit sie nicht erfröre und blickte sich um. Es stank trotz der
Minusgrade nach Urin, Clara zog ihre Hand an sich, die sie auf den beschmutzen
Betonboden gelegt hatte. Rundum lagen Leiber unter Lumpen, schliefen. Nachdem
Clara sich schwerfällig hochgerappelt hatte, durchfuhren hämmernde Schmerzen
ihren Kopf, sie verspürte Brechreiz, zitterte und hockte sich wieder hin.
„Bist am Krachen,
was?“, ein Junge mit Irokesenhaarschnitt stützte sich auf den Ellenbogen.
„Brauchst was?“, fragte er und setzte sich auf. Sein Gesicht, fahl, grinste im
Morgengrauen. Die Schneidezähne fehlten ihm. Er fasste in die abgetragene
Lederjacke und zog einen Tablettenstreifen hervor, reichte ihn Clara.
Sie wunderte sich,
dass sie ihm das Zeug mit bebenden Fingern aus der Hand riss, die Pillen
herausdrückte und mit Gewalt die trockene Kehle hinunterwürgte.
„Gleich geht’s dir
besser“, sagte der Junge.
„Ruhe“, rief eine
Mädchenstimme, ein Rülpser folgte.
Die Schmerzen ließen
nach, plötzlich wusste Clara, dass sie auf Klebstoff war, ihre Nase war
wundgeschnüffelt. Alle um sie herum waren süchtig.
Einer nach dem
anderen richtete sich auf. Teenager, die daheim in der Geborgenheit ihrer
Jugendzimmer schlafen sollten, behütet von Mama und Papa. Zum Schrecken, selbst
abhängig zu sein, kam die Traurigkeit über Clara, diese verlorenen Kinder zu
sehen. Sie wischte den Speichel weg, der ihr aus dem Mund troff – vielleicht
hatte das mit dem Opiat zu tun, das ihr der Junge zum Schlucken gegeben hatte –
und fragte: „Weshalb macht ihr das? Wieso seid ihr nicht daheim?“
Ein Mädchen, deren Lippen
blau vor Kälte waren, lachte auf. „Was glaubst du denn, warum?“ Sie wartete
eine Antwort gar nicht erst ab, „Weil es den Eltern schnurzegal ist, ob wir zu
Hause sind! Weil wir keine Hilfe gekriegt haben, weil sie arbeiten wie
bekloppt, um sich das und jenes kaufen zu können. Weil es keine Liebe gibt!“
Den letzten Satz schrie sie. Höchstens dreizehn konnte sie sein.
Clara stand
schwankend auf. „Und warum muss ich das erleiden, ich bin erwachsen!“
Irgendeiner prustete
los. Ein anderer zeigte mit der dreckigen Hand auf sie. „Du dumme Kuh, schau
dich doch an!“
Das Mädchen hielt
Clara eine Spiegelscherbe entgegen. Sie prallte zurück. Blickte an sich herab,
dem Kinderkörper, in dem sie steckte und weinte los.
Hatte ihr jemand
Superkleber zwischen die Augenlider geschmiert? Sie bekam sich nicht auf. Rund
um sie Hektik, wieso konnte sie nicht sehen, was da los war? In der Angst
kippten ihr die Beine weg. Jetzt erst spürte Clara, dass sie ohnehin schon lag.
Ihre Finger glitten über Stoff, ertasteten darunter eine Matratze. Ein Bett
also. Nicht mehr unter der Brücke gefangen. Clara zog die Luft durch die Nase
ein, es roch frisch, scharf fast. Nicht nach Abwässern und Fäkalien, sondern
Desinfektionsmitteln.
Als sie die Lippen
öffnete, um zu rufen, entwich ihrer Kehle ein Blubberlaut statt dem „Hallo?“.
Dennoch schien jemand
aufmerksam geworden zu sein; eine kühle Hand legte sich auf Claras Stirn und
eine wohlklingende weibliche Stimme sagte: „Sie ist wieder da. – Guten Morgen,
Frau Eich, hören Sie mich?“
Blubbern.
„Es wird bald besser
werden“, sagte die Stimme, „das Beruhigungsmittel hält Sie noch gefangen.“
Wie poetisch, dachte
Clara, ehe die Erkenntnis sie wie ein Blitz traf: Gestern hatten ihr zwei von
der Kripo die Nachricht überbracht, dass ihre vermisste fünfzehnjährige Tochter
an einer Überdosis gestorben war und unter einem Brückenbogen aufgefunden
wurde.
Nichts würde bald besser werden und das Gefangensein niemals enden.
(c) ELsa Rieger
Bild: Rodney Wood
7 Kommentare:
Ein Hammer, liebe Elsa!!
Das haut ganz nett rein!
..grüßt dich Monika
Oh, danke, liebe Monika, freu mich!
Liebe Grüße
Elsa
Oh Elsie,
so total aus dem Leben gegriffen, besser kann das einfach niemand!!!!
Weil du ein Herz für solche Themen hast!!!
Ich umarme dich ganz liebfeststolzaufdich!!!
deine Edith
Liebe Edith,
deine Herzenskommentare rühren mich jedes Mal aufs Neue, danke! Du bist eine richtige Mutmacherin!
Liebe Umarmung zurück,
ELsa
Liebe Elsie,
für viel zu viele Menschen in unserer Zeit real. Du beschreibst das nicht als Kritik. Wärme und Verständnis,bei all dem Grauen. Sehr berührend.Ich bewunder deine Fähigkeit solch ein schwieriges Thema berührend zu beschreiben, das Andere lieber totschweigen.
((((Elsie)))
d. Dagmar
Liebste Elsa!
Danke für deinen sehr berührenden Text, der zum Nachdenken anregt! Großartig, wie du auf Mißstände aufmerksam machst, ohne dabei den Finger zu erheben. Was wäre die Welt nur ohne dich?
*verneigmichmalundschauzudirauf*
♥liche Grüße, Bussi und Umarmung
Deine Ulrike
Liebe Dagmar, liebe Ulrike,
habt vielen Dank für die einfühlsamen Kommentare.
Totschweigen in einer Welt, wo uns immer mehr Kinder verloren gehen, sollte man nicht...
Liebe Grüße
Elsa
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