17. August 2012


Die verlorenen Kinder

Clara erwachte schnatternd vor Kälte. Der Wind pfiff durch den Brückenbogen, unter dem sie sich in Fetzen gehüllt fand. Sie schob den Pappkarton beiseite, den irgendjemand auf sie gelegt hatte, damit sie nicht erfröre und blickte sich um. Es stank trotz der Minusgrade nach Urin, Clara zog ihre Hand an sich, die sie auf den beschmutzen Betonboden gelegt hatte. Rundum lagen Leiber unter Lumpen, schliefen. Nachdem Clara sich schwerfällig hochgerappelt hatte, durchfuhren hämmernde Schmerzen ihren Kopf, sie verspürte Brechreiz, zitterte und hockte sich wieder hin.
„Bist am Krachen, was?“, ein Junge mit Irokesenhaarschnitt stützte sich auf den Ellenbogen. „Brauchst was?“, fragte er und setzte sich auf. Sein Gesicht, fahl, grinste im Morgengrauen. Die Schneidezähne fehlten ihm. Er fasste in die abgetragene Lederjacke und zog einen Tablettenstreifen hervor, reichte ihn Clara.
Sie wunderte sich, dass sie ihm das Zeug mit bebenden Fingern aus der Hand riss, die Pillen herausdrückte und mit Gewalt die trockene Kehle hinunterwürgte.
„Gleich geht’s dir besser“, sagte der Junge.
„Ruhe“, rief eine Mädchenstimme, ein Rülpser folgte.
Die Schmerzen ließen nach, plötzlich wusste Clara, dass sie auf Klebstoff war, ihre Nase war wundgeschnüffelt. Alle um sie herum waren süchtig.
Einer nach dem anderen richtete sich auf. Teenager, die daheim in der Geborgenheit ihrer Jugendzimmer schlafen sollten, behütet von Mama und Papa. Zum Schrecken, selbst abhängig zu sein, kam die Traurigkeit über Clara, diese verlorenen Kinder zu sehen. Sie wischte den Speichel weg, der ihr aus dem Mund troff – vielleicht hatte das mit dem Opiat zu tun, das ihr der Junge zum Schlucken gegeben hatte – und fragte: „Weshalb macht ihr das? Wieso seid ihr nicht daheim?“
Ein Mädchen, deren Lippen blau vor Kälte waren, lachte auf. „Was glaubst du denn, warum?“ Sie wartete eine Antwort gar nicht erst ab, „Weil es den Eltern schnurzegal ist, ob wir zu Hause sind! Weil wir keine Hilfe gekriegt haben, weil sie arbeiten wie bekloppt, um sich das und jenes kaufen zu können. Weil es keine Liebe gibt!“ Den letzten Satz schrie sie. Höchstens dreizehn konnte sie sein.
Clara stand schwankend auf. „Und warum muss ich das erleiden, ich bin erwachsen!“
Irgendeiner prustete los. Ein anderer zeigte mit der dreckigen Hand auf sie. „Du dumme Kuh, schau dich doch an!“
Das Mädchen hielt Clara eine Spiegelscherbe entgegen. Sie prallte zurück. Blickte an sich herab, dem Kinderkörper, in dem sie steckte und weinte los.

Hatte ihr jemand Superkleber zwischen die Augenlider geschmiert? Sie bekam sich nicht auf. Rund um sie Hektik, wieso konnte sie nicht sehen, was da los war? In der Angst kippten ihr die Beine weg. Jetzt erst spürte Clara, dass sie ohnehin schon lag. Ihre Finger glitten über Stoff, ertasteten darunter eine Matratze. Ein Bett also. Nicht mehr unter der Brücke gefangen. Clara zog die Luft durch die Nase ein, es roch frisch, scharf fast. Nicht nach Abwässern und Fäkalien, sondern Desinfektionsmitteln.
Als sie die Lippen öffnete, um zu rufen, entwich ihrer Kehle ein Blubberlaut statt dem „Hallo?“.
Dennoch schien jemand aufmerksam geworden zu sein; eine kühle Hand legte sich auf Claras Stirn und eine wohlklingende weibliche Stimme sagte: „Sie ist wieder da. – Guten Morgen, Frau Eich, hören Sie mich?“
Blubbern.
„Es wird bald besser werden“, sagte die Stimme, „das Beruhigungsmittel hält Sie noch gefangen.“
Wie poetisch, dachte Clara, ehe die Erkenntnis sie wie ein Blitz traf: Gestern hatten ihr zwei von der Kripo die Nachricht überbracht, dass ihre vermisste fünfzehnjährige Tochter an einer Überdosis gestorben war und unter einem Brückenbogen aufgefunden wurde.
Nichts würde bald besser werden und das Gefangensein niemals enden. 


(c) ELsa Rieger
Bild: Rodney Wood

7 Kommentare:

syntaxia hat gesagt…

Ein Hammer, liebe Elsa!!
Das haut ganz nett rein!

..grüßt dich Monika

Elsa Rieger hat gesagt…

Oh, danke, liebe Monika, freu mich!

Liebe Grüße
Elsa

Edith hat gesagt…

Oh Elsie,

so total aus dem Leben gegriffen, besser kann das einfach niemand!!!!
Weil du ein Herz für solche Themen hast!!!

Ich umarme dich ganz liebfeststolzaufdich!!!
deine Edith

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Edith,

deine Herzenskommentare rühren mich jedes Mal aufs Neue, danke! Du bist eine richtige Mutmacherin!

Liebe Umarmung zurück,
ELsa

Dagmar hat gesagt…

Liebe Elsie,

für viel zu viele Menschen in unserer Zeit real. Du beschreibst das nicht als Kritik. Wärme und Verständnis,bei all dem Grauen. Sehr berührend.Ich bewunder deine Fähigkeit solch ein schwieriges Thema berührend zu beschreiben, das Andere lieber totschweigen.

((((Elsie)))
d. Dagmar

Ulrike hat gesagt…

Liebste Elsa!
Danke für deinen sehr berührenden Text, der zum Nachdenken anregt! Großartig, wie du auf Mißstände aufmerksam machst, ohne dabei den Finger zu erheben. Was wäre die Welt nur ohne dich?
*verneigmichmalundschauzudirauf*
♥liche Grüße, Bussi und Umarmung
Deine Ulrike

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Dagmar, liebe Ulrike,

habt vielen Dank für die einfühlsamen Kommentare.

Totschweigen in einer Welt, wo uns immer mehr Kinder verloren gehen, sollte man nicht...

Liebe Grüße
Elsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

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