19. Juni 2013




Die Tankstelle




„Wo bleibt das Essen?!“ schreit der Mann vom Wohnzimmer herüber.
„Sekunde“, ruft sie und beeilt sich, die bereits gefüllten Teller auf dem Tablett unterzubringen. Sie balanciert ihre Last konzentriert von der Küche nach drüben, wo die Familie mit Tunnelblick in den Fernseher glotzt. Marie geht an ihnen vorbei zum Esstisch in der Fensternische. Sie stellt das Tablett ab und wischt eine Strähne ihres dunkelbraunen Haars aus dem Gesicht, das blass ist und feucht vor Anstrengung.
„Hierher damit“, murrt der Mann, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden.
„Sekunde“, sagt sie. An sich wollte sie den Film auch gerne sehen, Die grüne Meile mit Tom Hanks, war wieder mal nichts damit, weil alle viel zu spät heimgekommen waren nach ihren sonntäglichen Vergnügungen. Marie war zu Hause geblieben, denn der Garten wollte auch betreut sein; machte sie es nicht, machte es keiner. 
Sie trägt die gefüllten Teller zum Couchtisch, wo ihr Mann und die beiden halbwüchsigen Kinder das Essen nicht einmal ansehen, sondern gleich stumm in sich reinschaufeln.
Ich könnte ihnen Kuhfladen auftischen, sie würden es nicht merken, denkt sie. Als sie in die Küche zurück will, beginnt die Werbepause.
„Was ist? Isst du schon wieder nichts, Marie?“, sagt der Mann.
„Doch, ich habe schon“, lächelt sie und hofft, er glaubt ihr. Der Film geht weiter und sie entkommt in die Küche. Glück gehabt. So gut geht es nicht immer aus, dann zwingt er sie, mit ihnen gemeinsam zu essen. Sie muss dann alles runterwürgen, die Bissen werden so groß im Mund, sie meint, daran zu ersticken. 
„An dir ist nix mehr dran bei deiner Esserei!“, beschwert er  sich im Bett und knetet missbilligend ihre Brüste, während sie ganz still liegt und nur wünscht, es würde bald vorbei gehen. Jeden Samstag ist sie ihm Gefäß, weil das, wie er sagt, zur Gesundheitshygiene dazu gehört. Sex am Samstag. Hat sie ihn je geliebt? „Ich schlag mich ja an deinen Knochen wund!“, nörgelt er. 
Er hat recht, denn Maries Leib ist so mager, dass die Rippen und Hüftknochen herausstechen. Es war einmal anders gewesen und sie erinnert sich, sie hat ihn geliebt. Damals war sie schwellender Körper, der Lust versprach und auch hielt. Sie hatte Freude an ihm, jede Sekunde miteinander war erfüllt von Nähe und Zärtlichkeit. Die Veränderung begann nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Sie waren mitten im Hausbau und der Mann wurde arbeitslos. Die kleinen Kinder dazu, das Lustspiel war zu Ende, das Drama begann. Er gab ihr die Schuld, weil sie dieses Haus wollte, weil sie Kinder wollte, es half nicht, ihm zu sagen, sie hätten es doch gemeinsam entschieden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie keine Ahnung davon, wie schmerzhaft Schläge waren. Mittlerweile hatte er wieder einen gutdotierten Job, doch die Zerrüttung konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Marie räumt die Küche auf, die Tochter kommt herein und öffnet den Kühlschrank.
„Wo ist die Milch?“
„Tut mir leid, es ist keine mehr da, ihr habt zu viel getrunken davon.“
„Und was ist dann morgen zum Frühstück? Du weißt, ich brauche Milch!“, mault das Mädchen.
„Ich gehe gleich zur Tankstelle und besorge welche“, sagt Marie, weil sie weiß, es ist überflüssig zu bitten, dass jemand anderer geht. Außerdem ist sie froh um jeden Schritt hinaus, allein.

Im Vierundzwanzigstundenladen der Tankstelle ist sie die einzige Kundin. Es ist bald Mitternacht. Hier gibt es fast alles zu kaufen, sogar ein Last Minute Reiseschalter ist dort, Videos, Kosmetika und auch Milch. Der Bursche an der Kassa lächelt sie weißblitzend an, sie lächelt auch. Er ist dunkel, seine Haut glänzt wie poliertes Ebenholz, die schwarzen Augen leuchten unter den Dreadlocks hervor. Er ist neu in dem Laden.
„Jamaika?“, fragt sie. Er nickt, während er ihr herausgibt.
„Kalt ist es hier, nicht wahr?“, meint sie. Sie nimmt ihre Milchflasche und geht. Vor der Tankstelle zögert sie, ihr fällt ein, sie hat etwas vergessen. Sie sagt: „Sekunde“, und geht noch einmal in den Laden.

Als die Familie am nächsten Morgen in die Küche kommt, um zu frühstücken, liegt ein Zettel auf dem Tisch:
Ich wünsche euch ein Leben wie ein Lustspiel! Vergesst nicht, die Goldfische zu füttern. Milch ist im Kühlschrank und ich in Jamaika. Mutter.


(c) ELsa Rieger

6 Kommentare:

grenzen-los-zeit-los hat gesagt…

Aus mit dem "Trauerspiel", sie geht und wünscht der Family ein "Lustspiel"...die wird aber "trauern" weil die TREUE-TEURE auf und davon ist und nun vermutlich mit der Lust spielen wird ... mitten aus dem Leben diese herr -- liche Geschichte ... LG von Ursa

Elsa Rieger hat gesagt…

Hihi, liebe Ursa, danke! Ich hab mir gedacht, das wird dir bestimmt gefallen!

Schön, dein vergnüglicher Kommentar!

Liebe Grüße
ELsa

syntaxia hat gesagt…

Dann sollte sie aber dort bleiben! Zurück ginge eh nimmer! ;-)

..grüßt dich Monika herzlich

Elsa Rieger hat gesagt…

Unbedingt, liebe Monika, soll sie dort bleiben, unbedingt! :-)

Liebe Dankesgrüße,
ELsa

Anna-Lena hat gesagt…

Ein später Entschluss, aber ein richtiger. Wären doch viele Frauen so mutig und würden nicht warten, bis der Leidensdruck sie schon an ihre Grenzen gebracht hat.

Aus dem Leben gegriffen und überzeugend geschrieben, liebe Elsa :-) .
Herzliche Grüße,
Anna-Lena

Elsa Rieger hat gesagt…

Vielen Dank, Anna-Lena! Ich glaube, den richtigen Impetus kriegen die Frauen erst, wenn sie total unter Druck kommen, weil sie aus Rücksichtnahme auf das Aushalten konditioniert sine.

Liebe Grüße
ELsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

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