14. Oktober 2014

Kadaveresk



Nein, also wirklich nicht! Da stehen dann Leute herum in der Aufbahrungshalle, die ich schon zu Lebzeiten nicht ausstehen konnte, Menschen, die mir nahe waren und sich in Tränen auflösen angesichts des dekorativ geschmückten Sarges. Dann lässt ein mir unbekannter Pfarrer, dem ich ebenso unbekannt war, einen Sermon auf die Trauergäste herabrieseln, was für ein gute Mensch ich gewesen wäre. Bullshit! Nichts weiß er, gar nichts! Weder darüber, wie ich in jungen Jahren als Bajadere die Kneipen nach potenziellen Verehrern abgeerntet habe, noch dass ich als Kind mit Begeisterung in Drogeriemärkten Schmarrn geklaut habe. Er und die anderen Versammelten haben keine Ahnung davon, was ich alles getrieben habe. Wüssten sie, dass ich ein Jahr als Callgirl geschuftet habe, um zu überleben, die würden sich bedanken. Aber sicher nicht mit Kränzen, an denen Trauerschleifen baumeln, mit Aufschriften „In ewiger Liebe“, „Immer bei uns“, „Unvergessen“. Ha!
Irgendeiner liest nun, da der Pfarrer endlich die Klappe hält, „Stufen“ von Hermann Hesse. Viele Stufen musste ich überwinden. Oft ging es um die Frage, ob ich Futter für die Katze oder Zigaretten für mich kaufen soll. Ob ich diesen oder jenen Kerl, der mich schlug, killen kann. Dann gab ich aber doch Fersengeld, war die bessere Option. Man muss auf Nummer Sicher gehen. Im Knast war ich immerhin nur nach Demonstrationen für das Gute. Hat auch nichts gebracht, seht euch die Welt mal an! Okay, mir hat es was gebracht: Meinen lieben Ehemann, dann mein Kind und wunderbare Enkel.
Jetzt wird eine CD abgespielt, Tracy Chapman, „Baby can I hold you“, aber auch nur, weil ich mir die wünschte im Falle eines Falles. Dann geht es ab zur Grabstelle. Mein armer Junge müsste etliche Tausender dafür hinlegen, mich unter die Erde zu bringen. Das lohnt sich doch wirklich nicht! Dann die Verpflichtung, zu allen Feiertagen hierher zu latschen, Blümchen in die Vase zu stopfen, eine Kerzen anzuzünden. Wozu? Für wen? Ich bin das doch nicht mehr, die da unten bei ihren Knochen liegt!
Aber jetzt würden alle ein Schäufelchen Erde auf den Sarg schmeißen, sich andächtig schnäuzen und insgeheim daran denken, ob sie Schnitzel oder Schweinsbraten beim Leichenschmaus futtern werden.
Nein, Leute, definitiv nicht! Ich vermache meinen Kadaver der Anatomie. Das kostet nicht mal 500 Euronen, ich erspare mir und euch diese Grässlichkeit der Verabschiedung. Und meine Seele gehört mir, mit allen Geheimnissen, die mich ausmachen.

So long (wie lang das auch sein mag). 

Elsa Rieger

6 Kommentare:

grenzen-los-zeit-los hat gesagt…

Liebe Elsa,

es ist (fast) erschreckend, wie DU (auch)MEINE Gedanken zu Papier gebracht hast ...und dann, eines Tages, wird es doch ganz anders ... aber-, ich sag´s Dir:
Eines Tages... IST GANZ WEIT WEG !!!!
Ich BLEIBE NOCH und die, die sich in Deinen Worten hier so wiederfindet, beschließt, an andere Szenen zu denken ... LG Ursa

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Ursa, oh, da danke ich dir. Ist ein eher harter Text, ich habe keine so positive Reaktion wie deine erwartet, schön!
Klar wird es anders, irgendwann. Möge es lange bis dahin sein, wir haben doch noch viel vor hier und jetzt!

lg
Elsa

Malou hat gesagt…

Liebe Elsa,
Du bist mutig, einen solchen Text zu veröffentlichen. Vielleicht ist es ein Stück aus einem Roman von Dir, oder?
Doch habe ich schon ähnliche Gedanken gehabt. Wir sind sicher nicht die einzigen.

Liebe Grüsse
Malou

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Malou,

es ist natürlich Fiktion, die Proatgonistin bin nicht ich. Aber persönliche Gedanken über den Tod fließen durchaus ein. Man denkt darüber nach.

Herzlich,
ELsa

Michael Hermann hat gesagt…

nüchterne Realität und doch makaber - ein bildhafter und toller Text

Elsa Rieger hat gesagt…

Ich bedanke mich herzlich, das ist aber schön!

Liebe Grüße
ELsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

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