2. März 2015

Leseprobe aus Helene sucht eine grosse Zehe und entdeckt die Wirklichkeit

Leseprobe:

Helene ist fünfundzwanzig, sie kommt gerade von ihrem Vater, der sie zum Geburtstag damit überrascht, dass er sie zur Teilhaberin der Dessousfabrik macht.

Als ich zwanzig war, konnte er nicht stolz auf mich sein, ich war ihm peinlich. Heute verstehe ich das. Ich sehe mich, wie ich vor ein paar Jahren barfuß durch die Stadt zu Django lief, nach einem Streit mit Papa wegen der beschissenen Unterhosen, die ich in der Phase meiner Lehrzeit nähen sollte. Ich denke, Django war damals der einzige Jamaikaner in ganz Österreich, klar, dass ich ihn haben wollte.
Bei ihm kauerte ich auf dem Linoleumboden, und er saß auf seinem abgewetzten Sofa über mir. Meine Fingernägel waren so schwarz wie die Fußsohlen, ich pulte den Schmutz zwischen den Zehen heraus. „Drecksfabrik! Am besten, ich werde schwanger, dann wird er Ruhe geben.“
Vergebens versuchte ich, den Blick meines Liebsten unter den dichten, langen Wimpern einzufangen.
„Bitte!“
Er heizte das Dope an. „Magst du auch?“
„Mach mir ein Kind. Bitte!“ Lauter.
„Ekelhaft.“
„Du vögelst doch gern. Was ist schon dabei?“ Schreiend.
Django hustete nach dem Lungenzug. Er schob das Kinn vor in Richtung Flur. „Geh duschen!“
Vielleicht war er besserer Laune, wenn ich seinem Wunsch nachkam.
Ich war erst ein paar Mal bei ihm gewesen. Er kam lieber in meinem Elternhaus vorbei. Es sei edler, sagte er. Außerdem gab es bei ihm nie etwas zu essen. Kennengelernt hatte ich ihn im Voom-Voom, der schrägsten Disco Wiens. Zuhause gab ich vor, an diesen Tanzabenden eine Freundin zu besuchen. Papa hätte niemals zugestimmt, dass seine Tochter in ein derartiges Lokal ginge. Django arbeitete dort hinter der Theke und schenkte Bier aus. Eines Abends war ich sturzbetrunken, weil ich nur mit ihm ins Gespräch kam, wenn ich etwas bestellte. Mutig fiel ich ihm um den Hals, das kam ihm entgegen, er legte mich in der Personalgarderobe aufs Kreuz. Seitdem waren wir ein Paar.
Mit seiner Nagelbürste schrubbte ich die schmutzigen Fußsohlen, das heiße Wasser färbte sich langsam von Dunkelgrau zu Hellgrau. Endlich war es durchsichtig, ich stieg aus der Dusche und trocknete mich ab. Als ich ins Zimmer zurückkam, war Django zugedröhnt. Ich umschlang seinen Nacken, setzte mich auf seinen Schoß und küsste ihn.
„Ein Kind“, flüsterte ich ihm ins Ohr.
Anfallartig begann er zu lachen, seine Dreads wippten im Takt der Stöße. Plötzlich schubste er mich von seinen Schenkeln.
„Du spinnst doch!“
Ich landete mit dem Hintern auf dem Linoleumboden. Nachdem ich mich angezogen hatte, schlug ich Django ins Gesicht.
„Dann scheiß ich auf dein Einverständnis, Idiot! Ich krieg schon, was ich will!“
Er hielt sich die Wange, trat nach mir. Doch er erwischte mich nicht mehr. Ich war bereits aus der Tür, spuckte sie an und lief davon. So ein Arsch!
Zuhause setzte ich mich auf die Schaukel meiner Kindheit im alten Nussbaum und beobachtete meine Mutter Margarethe. Die sprach im Singsang, wenn sie sich über die Beete beugte oder die verblühten Rosenköpfe aus den Ranken zupfte. Die Blumen nannte sie: „Meine Schönen.“ Mit mir schimpfte sie oft, beklagte sich über mein Benehmen. Nacktschnecken schnitt sie entzwei und Wühlmäuse verfolgte sie mit dem Spaten. Über die regte sie sich am meisten auf. Wenn sie selten genug eine stellte, erschlug sie die mit Genuss.
„Verdammtes Rattenpack!“, schrie sie auch an diesem Tag, als sie eine erwischt hatte.
„Lass sie leben“, bat ich. Mutter hörte nicht, sie fuhr damit fort, Schnecken aus dem Gras zu rupfen, zu halbieren und in einem roten Kübel zu sammeln. Der Ast, an dem die Seile hingen, knarrte, als ich von der Schaukel sprang. Ich war immer noch stinkwütend auf Django, Zorn über Mutter kam dazu, ich entriss ihr den Henkel des Eimers. Entführte die armen Mollusken und schüttete sie über den Palisadenzaun auf die saure Wiese, neben den schmalen Bach, der dort floss.
„Stell dir vor, ich schneide durch deinen Bauch“, antwortete ich Margarethes hasserfülltem Blick.
„Ich bin längst entzwei“, entnahm ich ihrem Murmeln.
Diesen Satz hatte ich schon einmal gehört … ich muss sehr klein gewesen sein. Als ich eines Abends aufwachte, hörte ich Papa und Margarethe nebenan im Schlafzimmer streiten. Wortfetzen nur, aber mein Vater schrie. Er, der mich sonst nur liebevoll streichelte und mir schöne Dinge sagte, schrie. Mein weißes Nachthemd schleifte auf dem Boden, als ich mit meinem Krokodil ins Vorzimmer schlich, zu ihnen wollte. Sie sollten wieder lieb sein. Ich mochte die lauten Stimmen nicht hören und hielt mir die Ohren zu.
Auf einmal war es ruhig. Diese plötzliche Stille machte mir Angst. Zitternd hob ich mein Plüschtier wieder auf, drückte es an die Brust, um mich zu beruhigen. Leises Gemurmel. Dann hörte ich Margarethe weinen. „Ich bin schon entzwei“, schluchzte sie.
Worte und Bilder verschwammen. Mutter warf die Schnecken auf die Wiese, Mengen. Unverhohlen starrte ich sie an, sah, wie sie oberhalb ihres Nabels auseinanderbrach. Das Blut spritzte nicht, sondern landete in fetten Tropfen im Gras. Im Schneckentempo krochen die davon.
Bizarr.
Margarethes Herz flutschte aus der Wunde, kullerte ins Saatbeet für die Kapuzinerkresse. Mit Wasser aus der Gießkanne säuberte ich das pulsierende Ding von der Erde und steckte es wieder unter Mutters Brust. Dann lief ich zum Geräteschuppen, nahm die Rolle mit Sisalseil an mich; es diente zum Festbinden der Ranken am Geländer. Damit flickte ich die Schnittstelle über den Rippen zusammen.
„Du bist meine Blume, Helene“, sagte Margarethe zu mir und sank auf die Wiese. „Dein Selbstmordversuch hat mir das Herz gebrochen.“
Das kam unerwartet, katapultierte mich in die reale Welt zurück. Es schockierte mich. Hatte ich ihr hartes Herz durch die Operation aufgeweicht? Ich legte den Kopf in Mutters Schoß. „Die Sache vor zwei Jahren mit den Tollkirschen tut mir leid, auch wenn es eher ein Unfall war“, wiegelte ich ab, und es stimmte, denn umbringen wollte ich mich nicht wirklich.
Papas Stimme schreckt mich aus meinen Gedanken.
„Wieso starrst du denn Löcher in die Luft?“ Keinesfalls will ich ihm jetzt erzählen, dass ich an eine Phase meines Lebens gedacht habe, die er nicht besonders gut fand. „Das Schild, Papa, ich freu mich so! Ausgesprochen modern!“, lenke ich ab.
Er schmunzelt. „Man muss ja mit der Zeit gehen.“ (...)


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Eure Elsa

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