1. März 2015

Woher kommt Helene


Heute möchte ich ein wenig über die Entstehung meines Romans Helene sucht eine große Zehe und entdeckt die Wirklichkeit erzählen. 

Es ist mein zwanzigstes Buch und für mich zugleich mein wichtigstes Buch. Die Anfänge von Helene habe ich vor mehr als drei Jahren zu Papier gebracht. Wie fast alle meine Geschichten fiel mir die Idee wörtlich vor die Füße.

Ich lebe in Wien, mitten in der Altstadt, 1. Bezirk, keine fünf Minuten vom Stephansdom entfernt. Meistens mache ich um diesen einen großen Bogen, da er ständig mit Touristen gefüllt ist. Eines Tages, ich weiß bis heute nicht, warum, hatte ich nach einem Spaziergang Lust, die Kirche aufzusuchen. Obwohl es ein herrlicher Sonnentag war, waren nur wenige Touristen unterwegs. Wer Wien besucht hat, kann sich eine Vorstellung von "wenig" machen. Nach einiger Zeit hatte ich sogar ein Plätzchen ergaunert. Irgendwann bemerkte ich, dass die Besucher nicht mehr das Innenleben des Doms betrachteten sondern eine junge Frau, die im Hauptschiff unterhalb der Orgel tanzte. Ein faszinierender Anblick. Ich kannte das Mädchen, sie wohnte nicht weit von mir. Sie war zu diesem Zeitpunkt achtzehn, vielleicht auch schon neunzehn Jahre alt. Wie viele Jugendliche in ihrem Alter hatte sie ihre ersten Drogenerfahrungen gemacht und war an Schizophrenie erkrankt. Je nach Phase, in der man sie antraf, grüßte sie lustig wie ein Mädchen ihres Alters oder ging mit gesenktem Kopf an mir vorbei, ganz vertieft in Gespräche mit Personen, die ich nicht sehen konnte. Just an jenem Tag tanzte sie im Sephansdom, völlig ausgelassen. Ab und zu hielt sie inne, führte ein kurzes Gespräch, kicherte und tanzte weiter.
Ich weiß nicht, was mich in diesem Moment mehr beeindruckte: das Mädchen, ich nenne sie jetzt Helene, oder die ganzen Touristen, die ihr Tun aufmerksam verfolgten. Die Blicke der Menschen waren offen, kein "Fremdschämen" war zu bemerken. Es freute sie offensichtlich, berührte sie.
Irgendwann hatte Helene mich entdeckt und kam, immer noch tänzelnd, fast schwebend, auf mich zu. Mir wurde ein wenig unbehaglich, weil ich befürchtete, damit auch zum Mittelpunkt zu werden. Flucht war allerdings zwecklos, dazu standen die Menschen ringsherum viel zu gedrängt. Also blieb ich sitzen und schickte, der Örtlichkeit angemessen, ein Stoßgebet in Richtung Himmel, besser gesagt, Kuppel. Die Leitung nach oben war offensichtlich gestört, den Helene kam immer näher, blieb dann kurz vor mir stehen und stürzte sich ohne Vorwarnung auf meine Füße. Dabei murmelte sie immer wieder monoton: "Gib ihr die Zehe wieder, Krokodil. Ich weiß, dass du sie hast!"
Meine Gefühle in diesem Moment, als meine Schuhe durch die Luft flogen, muss ich nicht weiter schildern. Dies könnt ihr euch sicher vorstellen. Helenes Gesichtsausdruck hingegen zeigte Enttäuschung, als sie meine Zehen vollzählig sah. Lange störte es sie nicht, denn sie richtete sich wieder auf, lachte mich freundlich an und verschwand wieder. Ich auch, so schnell ich konnte.

Und genau aus diesen Momenten heraus entstand mein Roman, in dem es auch um Fantasie und Wirklichkeit geht. Und auch um eine Zehe. Und nicht zuletzt um die Frage, unabhängig von dem Krankheitsbild des Mädchens, wie viel Fantasie (-welt) unser Leben braucht, damit wir zufrieden existieren können. Denn ohne Fantasie ist die Welt manchmal zu schwer zu ertragen.

Mein Roman selbst geht über das Erlebnis hinaus, birgt ein wahres Familiengeheimnis, dem "meine Helene" auf die Spur kommt. Und dennoch hatte ich immer dieses beeindruckende Erlebnis im Hinterkopf.

Eure Elsa

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