Der Messerwerfer
„Du kommst nach London, spazierst über
den Circus und triffst einen Artisten.“ Gwen ist wider Erwarten begeistert, als
ich ihr von der Begegnung berichte und die Karten zeige.
Das
Revuetheater liegt in der Nähe der Westminster Abbey in der Circus Road, rot
bespannte Wände, plüschiges Ambiente. Unsere Plätze befinden sich in der Mitte
der ersten Reihe.
„Das nenn ich Protektion, meine Süße!“
Gwen freut sich, aber mir ist das peinlich, ich wäre lieber diskret irgendwo
hinten im Publikum gesessen.
Ein klassisches Programm läuft ab.
Trapezkünstler in Lamé-Overalls aus Südamerika, ein Zauberer im Frack mit
Kaninchen im Zylinder und einer Dame, die er zersägt. Eine Nummer, in denen
Pudel in Apricot durch flammende Reifen springen, angeführt von einer üppigen
Frau, deren Dauerwellenlöckchen wie das Fell der Hunde gefärbt sind. Zwischen
den Darbietungen die typischen Spaßnummern von zwei Clowns. Einer von ihnen
agiert in Frauenkleidern, und jedes Mal, wenn der andere in seinen übergroßen
Schuhen hinfällt, dreht er dem Publikum den Rücken zu, streckt den Hintern vor und
rafft den Rock. Auf seiner Unterhose steht: „Total Asshole“. Die Zuschauer
pfeifen und grölen.
Meine Spannung steigt, je weiter sich
die Show der Halbzeit nähert, denn danach tritt der Messerwerfer auf.
In der Pause muss Gwen eine Zigarette
haben. Auf der Straße sagt sie: „Jetzt bin ich aber gespannt auf deinen ...“
„Robert. Nicht mein.“ Doch insgeheim
wünsche ich es mir. Mein Robert.
Als wir in den Saal zurückkommen, steht
schon ein kleiner Tisch nahe der Rampe. Darauf liegen in zwei akkurat
ausgerichteten Reihen Wurfmesser mit roten Griffen. Robert betritt von links
die Bühne. Sein Gesicht verborgen hinter einem Blumenmeer roter Gladiolen in den
Armen. Lächelnd wirft er eine um die andere ins Publikum. Eine landet vor
meinen Füßen. Ich hebe sie auf, und als ich wieder zur Bühne blicke, steht eine
Assistentin im hautengen, silbernen Overall neben Robert. Er führt sie zur
schwarzen Zielscheibe, die an der hinteren Wand montiert ist, schnallt ihr
Lederriemen um Hand- und Fußknöchel, Taille und Stirn. Kurz betrachtet er sein
Werk, wendet sich dann dem Tischchen zu.
Mein Herz steht still, als Robert das
erste Messer in die Hand nimmt und sich auf die Finger haucht. Es ist ganz
ruhig im Saal, vielleicht halten alle den Atem an wie ich.
Roberts Muskeln spannen das
Seidenjackett am Rücken, an den Schultern. Plötzlich steckt das Messer mit
zitterndem Griff neben dem linken Ohr der Frau. In rascher Folge fliegen die
anderen, während die Scheibe zu rotieren beginnt. Schneller und schneller,
Robert jagt ein Messer nach dem anderen über die Bühne.
Ich schließe die Augen, in meinem Kopf dreht
sich alles, ich sehe, wie der Schenkel der Assistentin durchstochen wird, eine
Schneide steckt in ihrem Herzen, eine im Augapfel. Blut spritzt auf die Bühne,
da die Scheibe nicht aufhört, zu rotieren.
Dann tost Applaus in meinen Ohren und
ich öffne die Augen. Die Scheibe steht ruhig, Robert hat alle Messer geworfen. Er
befreit seine Assistentin, geleitet sie zur Rampe. Sie knickst. Ihr Overall ist
natürlich unbefleckt; meine absurden Fantasien! Robert breitet die Arme aus und
verbeugt sich. Wieder brandet Applaus auf.
„Yes!“, schreit Robert triumphierend,
„Yes!“
„Ich muss zu ihm“, sage ich
entschlossen, „verstehst du das, Gwen?“
„Natürlich, geh nur, wir sehen uns
zuhause. Man lernt ja nicht jeden Tag einen Artisten kennen.“
Vor dem Flur, der zu den
Künstlergarderoben führt, verabschiedet sie sich mit einem anzüglichen Grinsen.
Ich gehe von Tür zu Tür, schließlich finde ich jene mit Roberts Namen. Sie
steht offen, ich hebe die Hand, um zu klopfen, doch im selben Moment spaziert
die Assistentin, in Jeans und Rollkragenpulli, an mir vorbei. Sie schaut mich
spöttisch an. In einem schwarzen Frotteebademantel lehnt Robert am Schminktisch
und cremt sich die Hände ein. Auf dem Stuhl sitzt einer der Clowns, noch in
seinem Kostüm.
Robert wirkt überrascht, als er mich in
der Tür stehen sieht. Doch dann lächelt er glücklich, „Komm rein!“ Er deutet auf
seinen Besuch. „Das ist Jack total asshole.“
Der Clown nickt mir zu, grinst. „In
Wahrheit ist Robert das Arschloch, Sie werden schon sehen.“
„Hau schon ab“, sagt Robert und Jack
verlässt die Garderobe.
„Schön, dass du hier bist, ich habe mir
eben den Angstschweiß abgeduscht“, er zeigt auf seine feuchten Haare. „Was
trinken?“ Geschmeidig stößt er sich vom Tisch ab und füllt zwei Gläser mit
Grenadine und Sekt, reicht mir eines. Ich nippe daran. Robert trinkt seines in
einem Zug leer, drückt mich an sich. Sein Kuss drängend, er saugt an meiner
Oberlippe, ganz selbstverständlich.
Was denn sonst?, denke ich und sage auch
ganz selbstverständlich: „Ich will dich.“
„Ich weiß.“ Er schlüpft aus dem
Bademantel, steht im roten Minislip vor mir und ich senke den Blick. Dann
kleidet er sich an. „Komm, wir gehen zu mir.“
Das
Hotel ist schäbig.
„Yes“, flüstert Robert.
Als er in mir explodiert, brüllt er es
und rollt sich neben mich.
„Es tut mir leid“, sage ich, „ich bin
nicht besonders gut in dieser Disziplin.“
Er lacht.
„Ich war zu geil auf dich, zu schnell.“
Er streichelt meine Wangen. Sein Körper ist drahtig und so blass wie die Hände.
Ich berühre seine Finger. „Sie sehen so
zerbrechlich aus.“
„Sie sind kräftig.“ Robert stützt sich
auf den Ellenbogen, mustert mich. Ich schaue zur hochglanzlackierten
Holzschatulle, in der er seine Messer aufbewahrt. Er folgt meinem Blick. „Ich
lasse sie niemals in einem der Theater, lieber schleppe ich mich damit ab.“
Ich stehe auf und stelle mich an den
windschiefen Schrank.
„Wirf! Beweise es.“
„Was?“ Erstaunt.
„Dass ich mich sicher bei dir fühlen
kann, dass du mich liebst.“
„Nein!“ Er kommt zu mir, presst seinen
Körper an mich.
„Willst du morgen mein Model auf der
Bühne sein? Wagst du es?“
„Yes“, sage ich.
Wir lieben uns die ganze Nacht, bei
jedem Mal öffnen wir einander mehr. Robert führt mich geduldig in die Kunst der
Liebe ein, und ich strecke meinen nackten Körper wohlig unter seinen Zärtlichkeiten.
Ich denke an Django, seine grobe Umgangsweise, kein Wunder, dass ich bisher
kein großes Interesse an Sex entwickelt habe.
„Ich glaube, du bist meine Liebe.“ Ich werfe
mich auf ihn und überschütte ihn mit Küssen.
„Liebe. Was für ein großes Wort“, lacht
er.
Zwei
Wochen sind es nun, die ich mit Robert in seiner Absteige verbringe. Gwen
treffe ich nur ab und zu. Es entgeht mir nicht, dass sie deswegen schmollt.
„Schau“, sage ich und bestelle für sie
eine zweite Portion Schokoladeneis in der besten Eisdiele Londons nach unserem
Spaziergang durch Covent Garden, „ich lerne endlich wirklich die Liebe kennen,
sei mir doch nicht böse.“ Um sie zu beruhigen, habe ich ihr in der Mall ein
schönes XXL-Kleidchen gekauft, das sie gleich anbehalten hat. Immerhin hat sie
danach aufgehört, mit mir zu schimpfen.
Liebevoll und gar nicht laut sagt sie:
„Ich mach mir einfach Sorgen, du bist so naiv, weißt du? Jetzt gehst du sogar
auf die Bühne mit dem Typen, wo soll das hinführen?“
„Hab dich nicht so, komm mit, sieh es
dir an“, lache ich. „Ich werde doch nicht zum Schafott geführt. Robert ist ein
Profi. Und nun ist er mein.“
Entsetzt schüttelt Gwen den Kopf, sie
plustert sich in ihrer Üppigkeit auf, indem sie die Rüschen des neuen violetten
Samtkleides um sich drapiert. Theatralisch hebt sie den Arm und legt ihn über
die Stirn.
Nachher
in Roberts Garderobe – Gwen ist tatsächlich nicht mitgekommen – kippe ich zwei
Gläser Kir Royal.
„Der Köper muss absolut ruhig bleiben.“ Seine
Finger spielen Klavier in der Luft.
Ich trinke ein weiteres Glas. „Jetzt bin
ich ganz ruhig. Vielleicht sterbe ich heute. Ich will in einem Zustand der
Erleuchtung ins Blau übergehen.“
„Du bist verrückt.“ Er steckt mir die
Zunge zwischen die Lippen.
Es wird Zeit, ich schminke meine Augen,
male den Mund dunkelrot an. Das Kostüm der Assistentin ist mir zwei Nummern zu
groß. Robert verzieht das Gesicht.
„Ich weiß was“, sage ich, „hast du
vielleicht ein Messer hier?“ Darüber muss ich augenblicklich lachen. Er auch. Ich
schneide die Beine der schwarzen Seidenhosen in Fransen, meinen roten Pulli in
Streifen.
„Heute nagelst du zur Abwechslung einen
Punk an die Scheibe!“
Sein Lächeln wirkt abwesend, wir laufen
den Flur entlang zur linken Seite der Bühne, warten auf das Zeichen für den
Auftritt. In einem Aufwallen von Angst greife ich nach Roberts Hand.
„Jetzt nicht“, flüstert er heiser,
schüttelt mich ab und umarmt den dicken Blumenstrauß. In seinen dunklen Augen
flackert die Anspannung. Er hat auch Angst, das beruhigt mich.
„Du musst Arbeit und Liebe
auseinanderhalten.“ Bei seinen Worten öffnet sich der Vorhang.
Schon hat er sein umwerfendes Lachen
aufgesetzt und wirft die Gladiolen ins Publikum. Dann winkt er mich zu sich.
Stolz stöckle ich in meinen Stiefeletten auf die Bühne. Robert nimmt meine Hand
und verbeugt sich tief mit mir zusammen.
Kerzengerade gehe ich neben meinem
Messerwerfer zur Drehscheibe. Während er mir die Gurte umlegt, zischt er
zwischen den Zähnen: „Das ist Arbeit – ernst wie der Tod.“
Ich suche vergebens seinen Blick. Nun
bin ich eine Schießbudenfigur. Er läuft zur Rampe, zu den Messern.
Meine Schenkel fangen zu zittern an, der
Tremor ergreift den gesamten Körper bis hinauf zu den Haarwurzeln. Robert
tariert das erste Messer aus, wirft. Ich kneife die Augen zusammen. Ein
Luftzug, ein Aufschlag neben dem linken Ohrläppchen. Die Schneide singt eine
Zehntelsekunde. Ein Einschlag nach dem anderen. Schweiß sammelt sich zwischen
meinen Brüsten, sickert zum Bauchnabel abwärts. Dann eine kühle Hand an meinem
Hals, erschrocken reiße ich die Augen auf.
„Ist gut. Alles gut“, sagt Robert und
drückt den Hebel, der die Scheibe in Drehung versetzt.
Die
Welt zerfällt in bunte Wirbel, Strudel, Schlieren.
Durch die Lichtkreisel kriechen
Amphibien aus dem brodelnden Meer ans Land. Vulkane spucken Feuerfontänen, die
Erde bebt unter den Schritten der Saurier. Ein Tyrannosaurus Rex beißt den Kopf
vom langen Hals eines Dinosauriers, als handle es sich um einen kandierten
Apfel am Stiel. Mammuts wiegen sich vorbei, und dahinter brüllen die ersten
Menschen, bewaffnet mit Stangen.
Die Drehgeschwindigkeit verlangsamt
sich. Applaus rauscht in meinen Ohren. Ich wage einen Blick. Vor mir steht
Robert.
„Yes! Und wieder die Liebe“, sagt er und
hebt mich herunter.
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