30. Mai 2010



Übriggeblieben

„Es ist erschreckend.“ Karla zuckte zusammen, denn die Spitze des Zahnstochers, mit dem sie nach einem Kuchenkrümel zwischen zwei frisch verkronten Backenzähnen pulte, stach ins irritierte Zahnfleisch. „Ich meine, der Zahnarzt ist gut, aber privat ...“
Pauline machte sich über ihr zweites Tortenstück her. „Wieso? Was ist mit ihm?“
„Na, er hat was mit seiner Sprechstundenhilfe! Dabei drei Kinder und seit Ewigkeiten verheiratet, der geile Bock.“ Endlich war der Krümel draußen, Karla atmete erleichtert auf. Paulines Augen leuchteten vor Entzücken über den Zündstoff, den Karla da anlieferte. Ähnliches Schicksal schmiedete Karla und Pauline zusammen: sie waren beide übrig geblieben, ungeküsst. Beim Wienern ihrer Eingangsbereiche hatten sie Freundschaft geschlossen. Ab da polierten sie zur selben Zeit ihre Türen und Klinken; ein wunderbares Alibi für Spionagetätigkeiten. Zweimal wöchentlich spazierten sie in die Konditorei gegenüber dem Wohnhaus und gönnten sich einen Zuckerstoß.
Jetzt tunkte Pauline ihren Busen beinahe in das Sahnehäubchen auf ihrer Torte, um eine junge Frau besser sehen zu können, die gerade die Straße überquerte. „Ordinär. Kein Wunder, mit so kurzen Röcken laufen die herum, das muss die Männer ja verrückt machen.“ Karla nickte erbittert, und die Marionettenfalten um ihren Mund wurden noch tiefer.

Im Gegensatz zu sonst, wo sie recht vergnügt nach diesen Nachmittagen den Fernseher einschaltete, war sie schlecht drauf. Dabei hatte Karla schon die ganze Woche auf die Sendung mit Hansi Hinterseer gewartet.
Als das Luder vorhin die Straße überquert hatte, war Karla aufgefallen, wie sehr sie Marla ähnelte. Seit dreißig Jahren verging kein Tag, an dem sie sich nicht erinnerte, aber heute war es besonders widerlich.
Sie versuchte es mit einem Aromaölbad. Ihr schlaffer, weißer Bauch ragte wie eine Insel aus dem Wasser. Sanfte Wellen umspielten ihn. Karla schloss die Augen. „Ich habe bald gewusst, was da oben passierte“, sagte sie und patschte ins Wasser. „Ich brauche Ruhe zum Lernen, Schwesterherz“, äffte sie ihre Zwillingsschwester nach, „unser Häuschen ist einfach zu klein und ich würde dich stören beim Studieren, wo ich alles laut lesen muss, damit es in meinen Kopf reingeht, gell?“ Karla kam die Torte hoch, wenn sie nur dran dachte, wie leichtfüßig Marla nach diesen Lügen die Treppe zum Dachboden hinaufgeflattert war. Dabei war es doch Karla, der das Lernen schwerfiel. Heute noch, aber zu dem Zeitpunkt besonders, knapp zwei Monate vor dem Abitur.
„Als wir klein waren und uns als Prinzessinnen verkleideten, hatten wir es gut miteinander“, wandte Karla sich an die Kachelwand, an der sich das Kondenswasser sammelte, „das Namentauschen habe ich so gern gehabt, in deine Haut schlüpfen damit, ein bisschen du sein.“
Mit ungefähr zehn sagte Marla plötzlich, sie wolle ab nun ausschließlich sie selbst sein.
„Und wie du davongehüpft bist, hast du alles kaputtgemacht, du Schlampe!“ Karla wischte den Schweiß von der Stirn, den Schläfen.

Marla war mir nichts, dir nichts ins Frausein geglitten. Sie wurde Mittelpunkt ihres großen Freundeskreises, war überall eingeladen und gern gesehen.
Karla spürte immer noch die Narben, die die Akne auf Gesicht und Dekolleté hinterlassen hatte. Ihre Periode war von Krämpfen begleitet gewesen. Heilfroh, diese Tortur schon ein paar Jahre hinter sich zu haben, wusch sie sich zwischen den Beinen. Sie lachte, weil sie an das Gefühl dachte, dass ihre Teenagerarme denen Quasimodos geglichen hatte, als würden sie bald auf dem Boden schleifen. „Damals gab es nichts zum Lachen für mich, keiner konnte das verstehen.“
Alle hatten sie gemieden, als wäre sie von einer düsteren Wolke umgeben. Wenn sie auf dem Pausenhof an einer Gruppe Mitschülerinnen vorbeikam, verstummte das Gespräch. Hob sie die Hand im Unterricht, wurde es übersehen.

„Gegen dich hatte ich keine Chance, weder mit Zigaretten, noch mit den Leckereien, die ich verschenkt habe. Du warst das Licht, ich der Schatten. Kein Wunder, dass ich Süßigkeiten gefressen habe!“ Mittlerweile war Karla ihre Figur egal, sie hatte sich dran gewöhnt. „Immer die Ausreden, warum ich nicht auf die Partys mitdurfte. Es seien ja deine Freunde und ich wäre so unfreundlich, so muffig. Muffig, hast du gesagt, Miststück!“ Karla drehte ihren schweren Körper zur Seite, ihre Haut quietschte am Emaille entlang. Das Wasser war nur mehr lauwarm, trotzdem schwitzte sie vor Wut.

Dabei war sie überglücklich gewesen, weil Marla sie dann doch einmal mitgenommen hatte. Zum Feuerwehrfest.
„Was war ich überrascht, dass Jan mich aufforderte. Er legte den Arm um meine Hüften. Ich hatte ja keine Tanzerfahrung und merkte, dass er sich abmühte, mit mir zu Return to sender einen flotten Rock’n’roll hinzukriegen. Knallrot bin ich geworden, als er aufgab, mich zu den anderen zurückbrachte.“ Dann schnappte er sich Marla, wirbelte mit ihr über den Bretterboden. „Ich hasse dich! Immer noch!“, zischte Karla. Nach dem Schweißausbruch fröstelte sie. Sie rappelte sich hoch und stieg aus der Wanne. „Besoffen haben sie mich gemacht, bis ich mich erbrach. Was die gelacht haben!“

Karla war allein auf der Bank zurückgeblieben und eingeschlafen. Irgendwann kam sie zu sich und wankte heim, musste immer wieder kotzen. Marla hatte zusammengekringelt mit einem süßen Lächeln auf den Lippen geschlafen.
„Das hast du absichtlich gemacht, nichts konntest du auslassen, um mich fertigzumachen!“ Sie schlüpfte in den flauschigen Schlafrock und schlurfte in die Küche. Gönnte sich ein Gläschen Eierlikör. Die cremige Süße breitete sich in ihrem Mund aus. „Ah“, sagte Karla. Aber dann fiel ihr ein, wie die Sache mit Jan begonnen hatte. Marla und er trieben es miteinander. Auf dem Dachboden. „Haha, zum Lernen bist du raufgegangen! Jeden Nachmittag. Zumindest einweihen hättest du mich als deine Schwester können.“ Sie genehmigte sich noch ein Glas.
Manchmal war Karla nach oben geschlichen, hatte mit dem Ohr an der Tür gehört, wie die zwei flüsterten und stöhnten.
„Alles kommt einem zurück, gell, Marla?“ Karla ging ins Wohnzimmer, zur Anrichte aus Kirschholz. Vor der Fotografie im Silberrahmen, die sie und ihre Schwester in scheinbarem Einvernehmen lächeln zeigte, verharrte sie. „So ein Pech aber auch.“ Karla nippte am Likör.

Einen Tag vor dem Abitur ging der Dachboden in Flammen auf. Das trockene Holz brannte lichterloh, der Dachstuhl fiel schnell in sich zusammen. Die Schreie von Marla und Jan waren längst verstummt, als die Feuerwehr eintraf. Sie waren verkohlte, verschrumpelte Puppen.
Karla war nach einem Waldspaziergang von den verzweifelten Eltern und den Rettungsleuten informiert worden. Sie brach bühnenreif zusammen.
„Schauspielerin hätte ich werden sollen“, sagte sie zum Fernseher.
Die Untersuchung hatte dann ergeben, dass die beiden unachtsam mit einer Petroleumlampe umgegangen sein mussten. Sie war wohl umgekippt und hatte den daneben stehenden Kanister mit Heizöl entflammt.
Zerschmolzene Reste davon wurden in der Nähe der Dachbodentür gefunden.

Nach einem Blick auf Hansi Hinterseer, der mit seinen Gästen den bunten Abend zum Finale brachte, schaltete Karla ab. Mit einer großen Tafel Milchschokolade ging sie ins Bett.
Morgen würde sie die Messingklinke der Wohnungstür mit Politur behandeln, danach zum praktischen Arzt gehen und sehen, was sich dort im Wartezimmer tat. Später dann vielleicht in die Konditorei mit Pauline ...




©Elsa Rieger
Bild: Mikel Glass bei http://beinart.org

9 Kommentare:

Dagmar hat gesagt…

Meine liebe Elsa,

eine amüsante Geschichte, mit traurigem, ernsten Hintergrund ist dir hier gelungen. Du hast Alltagssituationen und die Schicksale der Zwillingsschwestern wunderbar verbunden. Schön das hier zu lesen.

Liebe Grüße
Deine Dagmar

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Dagmar,

Amüsant vielleicht insofern, dass der Erzählton leichthin wirkt, aber vom Inhalt eher bösartig, nein? Immerhin hat Karla ihre Schwester und deren Freund gekillt :-)

Liebe Grüße und danke!
ELsa

Rachel hat gesagt…

Liebe Elsa,

ein kleiner, feiner Krimi, der von Rache durchglüht ist...
Ob sie wirklich so ungeschoren davon kommt, die Karla?

Deine Fantasie ist umwerfend gut.


Mach dir noch einen schönen Abend, ja? Ich schieb dir ein Glas Roten zu;-)

herzlich, Rachel

Dagmar hat gesagt…

Ja, liebe Elsa, der Erzählton bringt immer mal wieder zum lächeln. Und auch gewisse Situationskomik,wenn ich mir das ganze bildlich vorstelle (was ich grundsätzlich tue).
Das Ernsthafte geht aber dabei nicht verloren.

LG
Dagmar

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Rachel, Nach einem Krimi, in dem die Mörderin bisher davongekommen ist, was die Justiz betrifft, die eigene Hölle muss sie dennoch ertragen, tut es gut, ein Glas Wein zu trinken, danke dafür und dass es dir gefällt.

Liebe Dagmar, danke fürs Nochmalige!

Liebe Grüße zur Nacht,
Elsa

syntaxia hat gesagt…

Brr, da fröstele ich dann doch!
und da steigt so eine gewisse Wut in mir hoch.. na ja, nur eine Geschichte, aber so echt, liebe Elsa!!

Einen Krimi hätte ich nicht gelesen, aber so bin ich mitgeschlittert. ;-)
..grüßt dich Monika herzlich

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Monika,

Ui, ich wollte dich nicht erschrecken, ich versichere dir, alles nur Fiktion :-)

Liebe Grüße
ELsa

chris-klick hat gesagt…

Bo, schreibst Du viel und guuuut.!!!
Regnet zu viel, kann man und frau nicht raus-is' doch zu' was gut...

Dein liebender C.A.

Elsa Rieger hat gesagt…

:-)

Danke fürs "Bo, gut"

*strahl*

Ja, bei dem Schei...wetter, da kommen dann auch grausige Geschichten raus!

Dein dich liebendes Schwesterherz

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