Leseprobe zu:
Plötzlich stößt mich jemand gegen den Ellenbogen. Ein Typ wie aus einem schlechten Film. Zudem trägt er einen Lodenjanker! Er ist mindestens zwanzig Jahre älter als ich.
„Cheerio“, sagt er mit feucht glänzenden Augen und hebt das Glas.
„Prost“, erwidere ich trocken. Unglaublich, jetzt stiert er mir ins Dekolleté.
„Ganz zauberhaft, Gnädigste!“
Marie, denke ich, sei doch nicht so hochmütig, einen guten Geschmack hat er ja. Das Kompliment wirkt. Wie auf Wolken schwebe ich zur Toilette.
Dort entblößt aber die grelle Beleuchtung das ganze Ausmaß meiner siebenundvierzig. Zum Trotz ziehe ich die Lippen nach, knallrot. Das ist seit Ewigkeiten meine Farbe. Eben. Ist ihre Zeit gekommen? Vielleicht besser altrosa? Ach was! Diese dummen Gedanken kommen nur, weil ich hier herumstehe wie bestellt und nicht abgeholt.
Der Landedelmann hat auf mich gewartet. Entflammt fragt er:
„Werden wir heute noch etwas unternehmen, Gnädigste?“
Ich schaue auf die Uhr, es wird langsam ungemütlich. Als er nach meiner Hand greift, habe ich endlich genug. Ich rufe „zahlen“. Sieht man es mir so deutlich an, dass ich versetzt worden bin? Ich stürze hinaus.
Da steht er vor mir, der Mann meiner Träume. Paul.
*
„Das Ende der Welt“ macht seinem Namen wirklich alle Ehre.
Die heraustorkelnden Gäste sehen jedenfalls danach aus. Wir schieben uns hinein. Hier drinnen brauche ich mir keine Zigarette anzuzünden, einatmen genügt.
Über der Theke baumelt ein Motorradreifen. Durch den Raum dröhnt Metallica aus den Boxen, mitten in meinen Leib hinein.
Wahnsinn!
Nur die Augenklappe der Barmaid ist für meinen Geschmack etwas zu dick aufgetragen.
„Ist echt“, sagt Paul grinsend. Er hat mich beobachtet und bestellt kopfschüttelnd ein Bier. Ich bleibe beim Wein.
Ein Zweimeter-Mann, ganz in Leder, boxt ihm auf die Schulter.
„Und, wie haben wir’s, Flieger?“, brüllt er.
Was bedeutet das?
„Wer auf dem Hinterrad mit hochgezogenem Lenker fahren kann, ist ein Flieger. Große Auszeichnung bei uns“, erklärt Paul bereitwillig, als könne er Gedanken lesen.
Dazu fällt mir wieder nur „Wahnsinn“ ein. Aber das Kichern ist mir vergangen, ich fühle mich seltsam in der Rockergemeinde. Stattdessen huste ich, tatsächlich kratzt es in meiner Kehle. Paul schlägt mir auf den Rücken.
„Lange her“, murmelnd setzt er zu einem tiefen Schluck an.
Er hat nie erwähnt, dass er Harleyrider war.
*
Als Max und ich beim Abendessen sitzen, ruft Julia an, ihre Stimme vibriert.
Ich fahre sofort los.
Sie sieht elend aus.
„Ich habe Chris rausgeworfen“, sagt sie mit fiebrigen Augen, „bist du stolz auf mich?“
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Julia zittert, ich drücke sie fest an mich und spüre, dass sie nur noch Haut und Knochen ist. Ich schmiere ihr Brote, zwinge sie ihr zwischen die Zähne.
Später, als wir eine Flasche Sekt trinken, weinen wir immer noch. Bis in die frühen Morgenstunden sitze ich an ihrem Bett, sie ist eingeschlafen, bald kommt ihre Freundin mit den Kindern.
Während ich warte, bettle ich das Schicksal an, dass Julia diesen verdammten Chris wirklich aufgeben wird. Auch wenn er der Erzeuger ihrer Kinder ist, lässt sich nicht schön reden, dass er mit Drogen dealt und Julia abhängig gemacht hat.
Ich flehe, bis die Kinder kommen und Julia wecken.
Müde mache ich mich auf den Rückweg.
Mir brummt der Kopf auch am späten Nachmittag noch, an der Lampe baumelt das Herz.
Das Telefon läutet, „ich bin nicht da“, zische ich.
Max nimmt ab. „Ein Paul war dran“, sagt er.
Es hämmert in meinem Kopf, gleich zerspringt er. Ich muss augenblicklich etwas unternehmen, die Trägheit abschütteln und Paul finden. Er ist sicher bei Carlo. Ich haste zum Kleiderschrank.
Wie im Fieber reiße ich die engsten Jeans und den schulterfreien Mohairpullover vom Haken. Ich muss umwerfend wirken, dazu die neuen Stiefeletten, und alles in schwarz zu dem blondierten Haar. Der pure Wahnsinn! Mit zwei weiteren Aspirin und dem Ohrgehänge bin ich bestimmt Siegerin des Herzens.
Auf dem Weg zu Carlo sticht der eiskalte Wind in meinen Nacken und beinahe wäre ich umgekehrt. Aber mein Auftritt wiegt sogar die erfrorenen Zehen auf. Mein Gott, bin ich schön!
*
Ob Papa Paul gemocht hätte?
Auf den ersten Blick lehnte er jeden ab, den ich anschleppte, ich musste ihn umstimmen, das bereitete ihm die größte Freude.
Zunächst brüllte er: „Was? Mit dem? Dann fahre ich weg, ich will ihn nicht sehen!“
„Papilein“, sagte ich.
Ich bin mir heute noch sicher, er wartete gespannt, wie ich weiter vorgehen würde, dachte in solchen Momenten daran, dass ich bei ihm Schauspielunterricht hatte und seine begabteste Schülerin war. Noch ein „Papilein“ und er blieb, „na ja, weil Weihnachten ist.“
Ich war achtzehn, er lebte bereits mit der anderen Frau, und wir sahen uns kaum noch. Trotzdem war er schrecklich eifersüchtig auf die Freunde von Julia und mir. In meinen pubertären Albträumen sah ich ihn gegenüber der Disco im Hauseingang lauern, die Pumpgun im Anschlag.
Einen, den Papa zuerst als Rocker beschimpft hatte, später mit ihm soff, heiratete ich schließlich. Es wurde eine altmodische und feierliche Hochzeit. Mein Kleid war weiß und wir bekamen eine Menge Haushaltsgeräte geschenkt. Ich ahnte schon, dass es schief gehen würde, während der Pfarrer auf mein Ja-Wort wartete. Filmbräute schmettern in solchen Momenten ein ultimatives „Nein“ und rennen aus der Kirche. Ich tat es nicht.
*
Es klingelt.
„Chris“, sagt Julia, als sei es selbstverständlich.
Meinem Blick weicht sie aus. Dafür trete ich sie unterm Tisch gegen ihr Schienbein.
Sie zischt mich an: „Schließlich ist er der Vater meiner Kinder“, und springt auf.
Paul lässt die Gabel fallen. „Sollen wir nicht lieber gehen, Marie?“
Ich kippe den Rest Rotwein hinunter. „Ich kann sie jetzt nicht
allein lassen.“
Meine zierliche Schwester neben zwei Metern Chris. Er hebt die Hand zum Gruß. Im Moment trägt er Dreadlocks und einen Mongolenbart. Es ist seine Sache, wie er aussieht, nicht aber, wie er meine Schwester behandelt.
„Hi Sistah, Peace, Brotha!”
Paul reißt die Augen auf, schlägt sich auf den Schenkel. „Hey, Alter, wir kennen uns doch.“
Christ stutzt, dann grinst er. „Na klar, ey. Von der Schule.“
Es gibt kein Halten mehr, Chris klopft Paul auf die Schulter, mimt den Männerkampf mit gefletschten Zähnen.
Ich zerre Julia in die Küche. „Bist du übergeschnappt? Du hattest ihn schon raus aus deinem Leben!“
Sie reißt sich los. „Er ist der Vater meiner Kinder und er tut, was er kann.“
„Ja, klar.“ Ich spüle einen Teller, am liebsten würde ich ihn an die Wand schleudern.
„Er bereut es. Ehrlich.“
Ich drücke Julia den nassen Teller in die Hand.
„Und er weiß genau, was ich brauche“, sagt sie mit schiefem Lächeln.
„Idiotin“, antworte ich.
Chris quasselt ohne Punkt und Komma. Er erzählt von seinem jamaikanischen Traum. Vermutlich ist er breit. Paul nickt.
„Hey, Sistah, deinen Freund kenne ich schon ewig.“
Ich höre nicht mehr hin. Chris interessiert es sowieso nicht, was ich zu sagen habe. Er baut sich einen Joint, der für ein Pferd reicht. Er zieht und es dauert ewig, bis ihm der Rauch aus den Nüstern tritt. Ich trinke Wein, Julia klappert mit dem Geschirr und Paul faltet seine Serviette zu Himmel und Hölle.
„Brotha“, sagt Chris langsam und mit halbgeschlossenen Augen.
Das Dope wirkt.
In diesem Moment kommt Julia aus der Küche. Sie lächelt mich an und da ich sie liebe, lächle ich zurück.
„Brotha, du hast einen Schatz an Land gezogen“, höre ich mit Grauen.
Meine Zunge krempelt sich um den Schluck Wein. Jetzt wird es richtig peinlich werden. Chris zieht und reicht die Pferdekippe an Julia weiter!
„Weil, Brotha“, spricht er, „Marie ist ein brachliegendes Ackerfeld.“
Julia tätschelt mich. „Genau.“
Haben sich denn alle gegen mich verschworen?
„Marie, ich wünsche es dir ja so sehr.“
Meine Zehennägel rollen sich auf.
*
Max kommt von einem missglückten Date zurück. Ich rieche das. Mein armes Kind. Schweigend setzt er sich neben Paul vor den Fernseher.
„Kann ich etwas für dich tun? Essen? Trinken? Rücken kraulen?“
Er schweigt beharrlich, sieht mich nicht einmal an. So schlimm hat es ihn erwischt. Liebeskummer. Ich schicke Paul in die Küche Kaffee kochen.
„Willst du mit mir alleine sein?“, frage ich meinen Sohn.
„Lass es, Mama“, er schüttelt den Kopf. Dann steht er auf.
„Ich werde mir eine Todesart überlegen“, sagt er.
„Aber hoffentlich für den Schneebrunzer, der dir die Alte ausgespannt hat.“ Lächelnd steht Paul mit dem Tablett in der Tür.
Max’ Gesicht hellt sich auf.
„Bleib cool“, sagt Paul.
„Schon“, antwortet Max und macht sich mit einem Lächeln auf den Weg, das mich an Gary Coopers Lächeln in High Noon erinnert.
Ich kuschle mich an Pauls Brust. „Was ist ein Schneebrunzer?“
„Einer, der seinen Namen in den Schnee pisst.“
*
Zur Weihnachtszeit laufen auf allen Kanälen Klassiker. Wir sehen uns Ben Hur an, mit Charlton Heston.
Nachdem Messala endlich krepiert ist, frage ich Paul, ein Chips kauend: „Hast du eigentlich noch Verpflichtungen, eine Beziehung oder so?“
Er wirft mir einen schrägen Blick zu und nickt.
Im selben Moment bekommt Heston seinen berühmten Kinnladenkrampf, als er seine Schwester und seine Mutter im Tal der Leprakranken beobachtet. Sie suchen sich einen verwelkten Salatkopf aus vielen verwelkten Salatköpfen heraus.
Es ist vorbei mit meiner Lässigkeit. Ich rücke ab von Paul.
Was bin ich doch für eine blöde Gans, hätte ich ihn nicht vorher fragen können, jetzt raubt es mir den Verstand.
Ich sperre mich im Klo ein und heule Rotz und Wasser. Scheiß drauf, scheiß drauf, scheiß drauf! Ich boxe gegen den Türstock, der Schmerz tut gut.
„Marie?“
Ich halte den Atem an.
„Alles in Ordnung, Marie?“
„Mir ist schlecht.“
Die alten Dielen knarren.
„Kann ich was ...“
„Geh weg! Ich muss gleich kotzen.“
Seine Schritte entfernen sich.
Ich schleiche vom Klo ins Bad, klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht, um die roten Flecken los zu werden. Wann werde ich endlich erwachsen! Aber mir ist wirklich übel. Mein Magen lässt sich nicht verarschen, er rebelliert. Ich bin so enttäuscht.
*
Chris hängt an der Theke, er schwafelt die Kellnerin an. Als er mich sieht, spreizt er die Finger zum Victory. „Jah, Sistah.“
Jah ist der Gott der Rastafari, Chris spricht oft mit ihm.
„Na, was gibt es denn so Wichtiges?“ Ich bestelle Apfelsaft und ein belegtes Brot.
„Jou. Rede mit Julia, sie kann aus mir doch kein Äffchen machen,
ich bin wie ich bin.“
Chris tänzelt vor meiner Nase den Jah-Dance. Aus der Musicbox tönt Love me tender. Ich bin stolz auf Julia – wie es scheint, greift sie durch.
„Was will sie aus dir machen? Den Vater von zwei Kindern?“
„Marie, ich kann nicht, du weißt doch.“
Es folgt die larmoyant vorgetragene Geschichte seiner Kindheit und Jugend. Ich setze mich an den Tisch, im Stehen ertrage ich das nicht.
„Ich bin im Heim aufgewachsen, übrigens in derselben Schule wie dein Paul.“
„Ich weiß.“
„... war schon drauf auf allem möglichen Zeug. Sogar Hustensaft habe ich gespritzt.“
Ich kenne die Litanei auswendig. Nach dem Kinderheim kommt er in den Jugendknast, weiter geht’s ins Rotlichtmilieu.
© ELsa Rieger
6 nov
vor 11 Stunden
10 Kommentare:
Liebe Elsa,
DAS macht wirklich Lust auf mehr!!!
Flott geschrieben, mit einem Schuss Melancholie und Ironie, genau die richtige Mischung für dunkle Herbst- und Wintertage.
Ich freu mich narrisch- für dich, mit dir und darüber, das bald komplett lesen zu können.
Herzichst,
deine Mo
Liebe Mo,
Danke, das freut einen doch sehr!
Bald hast du es!
Lieben Gruß
ELsa
liebe Elsa,
ich lese gerade mit Begeisterung Dein Buch, fühle mich wohl in der Gesellschaft der Marie, von der ich mir vorstelle, dass sie auch Elsa heißen könnte :-) ... Deine Schreibe begeistert und läßt viele "Aha-´s" und Ja, Ja - stimmt, verstehe ich, zu ... man ist sofort im Thema, fühlt sich wohl, versteht, begleitet und freut sich auf die nächste Pause um weiterlesen zu können ...freue mich, dass ich es habe ... Dir einen ganz lieben Gruß von Ursa
liebe Elsa,
darf ich für das Buch auf meinem Blog "grenzenloswortlos" werben ???
Ursa
Liebe Ursa,
was für ein Vergnügen, deine Buchbesprechung zu lesen, danke!
Und sehr gern kannst du werben für das Buch auf deinem Blog. Soll ja ein Bestseller werden!
Vielen herzlichen Dank!
ELsa (oder Marie?) ;-)
liebe Elsa, Du bist soviel Marie, wie Marie Elsa ist ... liebenswert, lebendig - liebend und leidend .. das mag ich Ursa
Ach du liebe Ursa, du!
ELsa
ich lese mit Freude in deinem Buch. Mit den dir eigenen Worten führst du so manchen Leser in die Welt der Erinnerung,
liebe Grüße,
Karl
Hallo lieber Freund. Ich mag deinen Blog. Es ist so schön und interessant. Wünsche dir einen schönen Tag. Umarmungen. Wenn Sie Zeit haben schauen Sie bitte bei der Zeitschrift mein Sohn ist Bearbeitung. Vielen Dank. PULSEmagazine
Lieber Phivos, danke! Ich werde das gern ansehen.
Lieber Karl, was soll ich sagen? Ich freu mich einfach, danke!
Liebe Grüße
ELsa
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