14. Oktober 2010
Liebe? Nein, danke!
Gesa schwang euphorisch den Staubwedel. Es machte ihr Spaß, die neuen Möbel zu pflegen. Ohne auf das Display zu schauen, nahm sie das Gespräch an, was sie sogleich bereute.
„Ach, Achim ...”
„Gesa, bitte ... es tut mir leid, bitte komm zurück ...” Achim weinte, sie hörte es deutlich. Trotzdem holte sie tief Luft und sagte mit harter Stimme: „Nein! Niemals! Du hast mich betrogen! Es ist vorbei. Schluss, aus, Ende!“
„Aber Gesa, das war bedeutungslos. Außerdem war ich besoffen”, jammerte Achim.
„Eben. Du warst es praktisch neun Jahre lang. Mit dreißig, so frisch verliebt, glaubte ich wirklich, du würdest damit aufhören. Jetzt ist definitiv Schluss. Ruf mich nicht mehr an!”
Gesa beendete das Gespräch. Sie umklammerte immer noch den Staubwedel, der Stiel war verbogen. Sie hatte ihn während des Telefonats wieder und wieder auf den Tisch geschlagen, sodass dieser nun mit Staub überzogen war. Da fiepte das Handy erneut. Achim! Gesa drückte ihn weg und ließ den Hammer, mit dem sie vorhin die Nägel für die Bilder eingeschlagen hatte, auf das Handy niedersausen. Dabei stellte sie sich ihren Exfreund vor. Die Einzelteile warf sie in den Mülleimer. Jetzt ging es ihr besser, der Zorn verrauchte. Sie rief Carolin vom Festnetz an.
„Süße, mein Handy gibt’s nimmer, hab’s eben entsorgt ... ja? Klar, Achim. Diese Nummer hier hat er nicht und morgen kauf ich mir ein anderes. Wann kommst du denn, bin fast fertig eingerichtet. Super! Dann bis gleich, und Carolin? Bring Prosecco mit!”
Beschwingt wischte Gesa den Couchtisch ab. Endlich was Eigenes. Allein wohnen. Selbst bestimmen. Sie spazierte mit nackten Füßen von der ausladenden Sofagruppe auf dem dicken Teppich im Wohnzimmer in die Diele, zur kleinen Küche. Mäxchen, ihr geliebter schwarzer Kater, begleitete sie schnurrend. Zärtlich strich Gesa über die Arbeitsplatte aus kühlem rosa getönten Marmor. Diese Platte aus Carrara, purer Luxus für jemanden wie Gesa, die gerade erst ihre Taxikonzession erworben hatte. Achim betrieb ein Taxiunternehmen, für das Gesa gefahren war. Durch die Trennung hatte sie den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. Es klingelte, als sie ihren Lieblingsraum betreten wollte: Morpheus Reich, das Schlafzimmer.
„Carolin, komm rein!” Gesa zog ihre Freundin mit sich. „Schau!”
Nach einer Weile meinte Carolin ergriffen: „Da hast du ja deine gesamten Schwulstträume reingepackt, Süße!”
Gesa lachte. Hand in Hand nahmen sie Anlauf und landeten auf dem runden Riesenbett. Das Nachfedern entlockte ihnen synchrone Seufzer. Orientalische Kissen und Decken in Sattorange und Dunkelrot umschmeichelten ihre Körper.
Gesa streichelte den samtigen Stoff. „Tausendundeine Nacht, liebe Carolin, hm?”
„Für eine tolle Liebesnacht ...”, stöhnte die Freundin wollüstig.
„Ha!” Gesa rappelte sich hoch. „Für mich hat sich’s ausgeliebt!” Gesa schüttelte es, so sehr widerte der Gedanke sie an.
Später im Wohnzimmer, nach den Gnocchi con Basilico, knallte der Korken, Prosecco schäumte in die Gläser. Mäxchen verschwand ins Orientgemach, er konnte Alkoholgeruch nicht ausstehen.
Die Freundinnen stießen auf Gesas Befreiung an.
„Nie wieder ein Mann in meinem Heim!”
„Sag niemals nie, Sweetheart”, meinte Carolin trocken.
„Ich schwör’s. Mein Bedarf ist gedeckt. Was glaubst du, wie schön es ist, abends nach der Arbeit die Füße hochzulagern, Spaghettis zu futtern und mit Mäxchen auf dem Schoß Tatort schauen. Das werde ich niemals mehr aufgeben.” Gesa hob ihr Glas und zischte durch das Perlengeprickel in ihrem Mund: „Liebe? Nein, danke!” Proseccotränen netzten ihre Wangen.
Nach vier Flaschen schmetterten die beiden gegen Mitternacht zur Musik der Dire Straits, Gesas Lieblingsband:
I got my ticket to heaven
and everlasting life
I got a ride all the way to paradise
I got my ticket to heaven
and everlasting life
all the way to paradise
Da läutete es Sturm an der Wohnungstür. Ein Kerl im Schlafrock stand davor, der Gesa ein „Psst” ins Auge spuckte.
„Prost!”, sprühte Gesa zurück. „Hi, ich bin die neue Nachbarin.”
„Leider”, sagte der Schlafrock und entfernte sich.
Zögerlich öffnete sie am nächsten Morgen die Augen.
„Oh, Gott ... Herr, erbarme dich meiner ...” Gesa wollte nur eines. Sterben. Ihr war hundeelend, kaum schaffte sie es aus dem Bett. Abgesehen von der Übelkeit war sie immer noch beduselt und wusste, sie sollte liegen bleiben.
Doch es half nichts, sie hatte eine bestellte Fahrt zum Flughafen. Drei Minuten unter der kalten Dusche, heißen Pfefferminztee geschlürft, und Gesa war halbwegs wieder hergestellt.
Sie erledigte den Auftrag und nahm eine Fuhre ins Villenviertel an. Während sie auf der Rückfahrt die Kastanienallee passierte, warf sie einen Blick in den Spiegel.
„Gesa, du kannst stolz auf dich sein, richtig gut bist du!”, sagte sie lächelnd. Sie schüttelte den braunen Pagenkopf zurecht, zupfte einzelne Strähnen in gewollte Unordnung. Plötzlich nahm sie einen Schatten vor dem Wagen wahr und knallte im selben Moment mit der Stirn gegen das Lenkrad. Wie von selbst trat der linke Fuß auf die Bremse. Gesa griff an die schmerzende Stirn. Kein Blut, aber eine Beule, die unter ihren Fingern anschwoll. Was hatte sie getan? Sie zog scharf die Luft ein. Benommen stieg sie aus und tastete sich an der Kühlerhaube entlang.
Da lag jemand. Gesas Magen rebellierte. Vor ihrem Taxi lag ein Mann auf dem Rücken. Lang ausgestreckt, bewegungslos. Sein verdreckter Burberry war hochgeschoben bis zur Taille. Er trug schmuddelige Jeans, löchrige Turnschuhe, hatte keine Socken an. Struppiger Vollbart, grau meliert, Zottelhaar.
„Hallo?”, flüsterte Gesa. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, sie kniete neben dem Mann nieder. Schließlich schüttelte sie ihn an den Schultern. „Hallo, wachen Sie auf!” Gesa kniff die Augen zusammen, bangte um ihre Konzession, sah sich festgenommen von der Polizei, hinter Gittern darbend.
Als Gesa wieder hinschaute, starrte sie in Türkisblau. Der Mann hatte Augen wie Gletscherseen.
„Wo bin ich ...”, stöhnte er.
„Danke, Gott, danke!”, schnaufte sie. Aus dem Taxi rockten die Dire Straits.
„Ich bin nicht Gott, nur Serafin.” Seine Stimme war nun kräftiger. Vorsichtig bewegte er seine Arme, dann die Beine. Als er das linke Bein anhob, schrie er auf. „Ah, der Knöchel!”
„Prellung”, rief Gesa fröhlich. Am liebsten hätte sie einen Freudensprung gemacht vor Erleichterung. Da sie wusste, dass sich das nicht gehörte, sagte sie fürsorglich: „Das ist nicht schlimm. Das wird wieder.”
Als Serafin mit ihrer Hilfe hochkam, konnte er nur auf einem Bein stehen. Gesa stützte den großen, mageren Mann auf dem Weg zur Autotür und half ihm einzusteigen. Er roch ungewaschen. Sie öffnete die Fenster.
„Wissen Sie was? Ich fahre Sie, wohin Sie wollen. Wo soll es hingehen?”
Er hob die Schultern.
„In die Stadt?”
Wieder Schulterzucken.
Gesa meldete sich bei der Zentrale und gab vor, eine Panne zu haben. „Ich mach Feierabend für heute”, sagte sie.
„Aua”, stöhnte es von hinten.
„Haben Sie eine Bleibe?” Gesa fürchtete seine Antwort.
Er schüttelte den Kopf. Sie fluchte innerlich. Was, wenn er zur Polizei geht, den Unfall meldet, mich anzeigt, weil er Schmerzensgeld kassieren will?
„Wissen Sie was? Ich bringe Sie zu mir nach Hause. Wir machen einen Umschlag mit essigsaurer Tonerde auf den Knöchel und bald sind Sie wieder fit.”
„Warum tun Sie das?”
„Weil ich Sie verletzt habe. Ich möchte es wieder gut machen.” Gesa hoffte, dass ihre Lüge nicht zu offensichtlich war. Sie setzte ihr schönstes Lächeln auf.
„Das brauchen Sie aber wirklich nicht zu machen ...”
„Basta! Keine Widerrede!”
„Ich kann das unmöglich ...”
Sie drehte sich um und stach mit dem Zeigefinger nach ihm.
„Wollen Sie nun endlich still sein? Sie kommen jetzt mit und werden verarztet.”
Vor der Wohnungstür war Mäxchens sehnsüchtiges Miauen zu vernehmen; er spürte genau, wann Gesa heimkam. Jedes Mal, wenn sein Frauchen die Wohnungstür öffnete, flog Mäxchen mit einem Riesensprung vom Garderobenschrank durch die Luft und landete auf Gesas Brust. Die Pfoten auf ihre Schultern gelegt, den Kopf an ihren Hals geschmiegt, schnurrte er seine Begrüßung. Auch heute flog er in hohem Bogen durch die Diele, doch landete er auf Serafins Brust, da Gesa dem Gast den Vortritt gelassen hatte. Vor Entsetzen hakte der Kater seine Krallen in den Hals des Unbekannten, dem die Luft weg blieb.
„Aus! Mäxchen, was treibst du denn da?”
„Dass Katzen fliegen, ist mir neu”, grinste Serafin unter Schmerzen.
„Meine Güte! Erst der Knöchel, jetzt der Hals ... es tut mir so leid”, sagte Gesa und pflückte Mäxchens Krallen aus Serafins Haut.
In diesem schmuddeligen, streng riechenden Zustand wollte Gesa diesen Menschen nur ungern in die Wohnung lassen.
„Wissen Sie was, Serafin? Ich denke, Sie gehen zuerst mal unter die Dusche. Ich lege Ihnen einen Jogginganzug von meinem Ex raus, den ich versehentlich mitgenommen habe. Danach essen wir und kümmern uns um Ihren Knöchel.”
Er wehrte sich nicht, im Gegenteil schien er ausgesprochen erfreut über die Aussicht auf Reinigung.
Gesa drückte ihm ihre Nordic Walking Stöcke in die Hand, er humpelte ins Bad.
Während sie Mäxchen Futter gab, dachte sie über die Situation nach. Jetzt hatte sie aus lauter Angst den Verwahrlosten mit nach Hause genommen. Wieso vertraute sie ihm? Er könnte sie heute Nacht killen, zerstückeln oder sonst etwas Grauenhaftes tun! Je mehr Gesa grübelte, desto ängstlicher wurde sie. Eine Stimme in ihrem Kopf sagte: Du dumme Kuh, wie kannst du so naiv sein? Wahrscheinlich hat er gar keinen geprellten Knöchel. Alles Show, um sich einzuschleichen.
Eine andere Stimme antwortete: Quatsch. Du siehst doch, dass er verletzt ist. Und das ist deine Schuld. Außerdem hast du schon lange keine gute Tat mehr vollbracht. Es ist deine Pflicht, wo es dir selbst so gut geht.
Es gab noch eine dritte Meinung: Serafin war nicht immer das gewesen, was er jetzt ist. Hör den wohltönenden Klang seiner Stimme, die gewählte Sprache. Schau seine schmalen Hände an.
Zur Sicherheit stopfte sie das Fleischermesser in die Sofaspalte.
Eine Stunde später kam Serafin aus dem Bad ins Wohnzimmer. Die ungepflegten Zottelhaare waren zu einer seidigen, graublonden Mähne geworden, die das Türkisblau seiner Augen betonte. Serafin hatte den Bart getrimmt, Gesa konnte den schönen Schwung der Lippen sehen.
„Gestatten, Serafin Huber.” Der attraktive Mann deutete eine Verbeugung an. Sein Lächeln verzauberte Gesa. Sie platzierte ihn auf das Sofa, dort, wo kein Messer war.
Sein Knöchel war tatsächlich geschwollen, Gesa bettete ihn auf ein Kissen und wickelte einen Umschlag mit Tonerde darum. Sie servierte Spaghetti con Funghi mit Tomatensalat und öffnete eine Flasche Valpolicella für den Gast.
Serafin hatte gepflegte Tischmanieren, was Gesa sehr gefiel. Entspannt erzählte sie von Achim und warum sie jetzt ein ganz neues Leben begonnen hatte. Irgendwie sah sie sich dabei zu und stellte verwundert fest, dass sie ihr Innerstes nach außen kehrte vor diesem Obdachlosen, der höflich zuhörte. Als sie ihn nach seinem Leben fragte, wurde er still.
Dann bat er: „Können wir das auf morgen verschieben? Ich bin überwältigt von Ihrer Freundlichkeit, ich habe so etwas seit langem nicht erlebt. Ich möchte diesen Moment noch ein wenig genießen. Ich verspreche Ihnen, Gesa, morgen erzähle ich alles.”
Während sie Serafin das Nachtlager auf der Couch bereitete, entfernte sie unauffällig das Fleischermesser aus der Sofaritze. Unter dem Geschirrtuch verborgen, mit dem sie die heißen Teller aufgetragen hatte, brachte sie es in die Küche zurück.
Zwischen ihren üppigen Kissen und Decken liegend, wartete Gesa auf Schlaf. Aber Morpheus schien heute anderweitig beschäftigt zu sein. Gesa starrte in die Dunkelheit, schlich schließlich hinaus und legte ihr Ohr an die Wohnzimmertür. Nichts regte sich.
Mäxchen strich mit seiner rauen Zunge über ihre Fußsohle, als sie ins Bett zurückkam. Mit einem gurgelnden Schrei fuhr Gesa hoch. Serafin hatte seine Hände um ihren Hals gelegt, seine Daumen zerdrückten ihren Kehlkopf. Er grinste böse. Ein Albtraum. Der Morgen graute bereits. Gesa wälzte sich zwei Stunden schlaflos hin und her, ehe sie aufstand.
Kaffeeduft umschmeichelte ihre Nase, als sie die Schlafzimmertür öffnete. Serafin winkte von der Küche aus.
„Guten Morgen!”, erklang seine Stimme fröhlich. Der Küchentisch war gedeckt, nichts von dem fehlte, was Gesa zum Frühstück gern hatte. Toast, Orangensaft, die englische bittersüße Marmelade und natürlich Kaffee. Überrascht setzte sie sich an den Tisch. „Hmmm ...”, brachte sie heraus.
„Haben Sie gut geschlafen?”, fragte Serafin. Er goss Kaffee in die Tasse. „Milch? Zucker? Ein Ei vielleicht?”
„Kein Zucker. Ja, Milch. Danke, kein Ei”, sagte Gesa. Das war ja wie im Plaza! Serafin setzte sich zu ihr und schaute zu, wie sie frühstückte.
„Und Sie? Nichts?”, fragte sie irritiert.
„Wenn ich darf, gern”, antwortete er.
„Wieso nicht?”
„Ich kann doch nicht so einfach ... aber ich danke Ihnen für die Einladung.” Endlich griff er auch zu.
Gesa war spät dran und beeilte sich, ihren Taxidienst zu beginnen. In der Tür drehte sie sich um. „Was macht denn die Verletzung?”
Serafin zeigte ihr das Bein. Der Knöchel war immer noch geschwollen.
„Sie laufen mir nicht weg, ja? Wir sehen uns am Abend und bis dahin: Umschläge und hochlagern.”
Er nickte.
Der Tag wollte nicht vergehen. Gesa hatte zwar gute Fahrten, aber der Fremde geisterte in ihrem Kopf herum. Wie liebevoll er den Frühstückstisch gedeckt hatte. Wie merkwürdig altmodisch er sich ausdrückte. Sie kannte so etwas nicht, weder aus der Kindheit, noch von irgendjemandem sonst aus ihrem Leben. Sie lächelte ständig vor sich hin.
„Schön, einer so freundlichen Taxichauffeurin zu begegnen”, meinten einige Kunden und gaben gutes Trinkgeld.
Er war ein Penner, ein Obdachloser, und Frühstück hinstellen war ja eigentlich keine tolle Leistung. Gesa versuchte mit allen Tricks, den Mann aus ihrem Hirn zu verbannen. Auch wenn er so frisch geduscht einfach zum Niederknien aussah, seine Augen eine Wahnsinnsfarbe hatten, die feingliedrigen Hände bestimmt wunderbar streicheln konnten ...
Energisch bremste sie an einer Kreuzung. Mit der flachen Hand klatschte Gesa auf das Lenkrad. Da sie allein im Taxi war, sagte sie laut und deutlich: „Gesa Wohlrath! Nie wieder verliebst du dich! Du willst dein ruhiges Singledasein keinesfalls mehr aufgeben! Du willst keine dreckigen Männerunterhosen mehr waschen, dich nicht rechtfertigen müssen, wenn du mit Carolin um die Häuser ziehst! Du willst niemals mehr bumsen, bloß, weil ein Kerl neben dir liegt und mechanisch nach dir greift. Hast du das kapiert?”
Feierabend. Das Herz wummerte Gesa bis zum Hals, als sie daheim aufsperrte. Mäxchen sprang wie gewohnt an ihre Brust, doch sonst war es ganz still in der Wohnung.
„Serafin?”
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
Sehr geehrte Gesa!
Ich bedanke mich hiermit noch einmal herzlich für Ihre Gastfreundschaft. So viel Freundlichkeit erlebte ich in meinem ganzen Leben nicht. Sie haben mein Herz berührt. Ich wünsche Ihnen ein wunderbares Leben, Sie haben es verdient!
Mit Hochachtung,
Serafin Huber
PS: Ich habe mir erlaubt, Ihre Stöcke für eine Weile auszuleihen, sobald mein Knöchel wieder heil ist, werde ich sie zurückgeben. Herzlichen Dank.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Auf dem Küchenstuhl lag akkurat zusammengefaltet der Jogginganzug. Sie ging zum Fenster, um eine Zigarette zu rauchen. Beinahe in jedem Fenster gegenüber brannte Licht. Eine Frau bereitete Abendessen zu, der Mann kam dazu, küsste sie zärtlich. Gesa fühlte sich schrecklich allein.
„Carolin?”, fragte sie am Telefon. „Ziehst du mit mir um die Häuser? Bitte.”
In der Pizzeria schüttelte Carolin den Kopf. „Gesa, was machst du denn für Sachen? Das ist gefährlich, Mädel!”
„Er hat ein perfektes Frühstück gemacht. Er war höflich und schön und bescheiden und ... ach ...” Sie war so traurig, nicht einmal die Pizza Diavolo wollte ihr schmecken.
„Was willst du denn mit einem Stadtstreicher, ich bitte dich!”
„Serafin war das bestimmt nicht immer! Vielleicht war er mal Computerfachmann, der seine Arbeit verloren hat, oder so”, verteidigte sie sich.
Als sie später durch die Innenstadt bummelten, wollte kein rechtes Gespräch mehr aufkommen, denn Gesa hielt insgeheim Ausschau nach einem großen Mann im fleckigen Burberry mit Nordic Walking Stöcken.
Tröstend leckte Mäxchen über Gesas Fußsohle, ehe er sich am Bettende zusammenrollte und einschlief.
Die Tage waberten wie im Nebel vorüber, Gesa war schlecht gelaunt. Sie hielt ständig die Augen offen, wenn sie den Standplatz in Bahnhofsnähe anfuhr oder andere Plätze im Zentrum, auf denen sich Obdachlose aufhielten. Doch Serafin war wie vom Erdboden verschluckt. Würde er wenigstens die Stöcke zurückbringen, dann könnten sie reden. Carolin tat Gesas Sehnsucht als Jungmädchenträume ab.
„Süße, vor einer Woche noch sagtest, nein, brülltest du: nie wieder ein Mann, Liebe, nein danke und solche Sachen. Was soll denn das? Meinst du, er ist ein verwunschener Prinz? Du führst dich auf wie vierzehn. Vergiss ihn! Ein anderer wird kommen.”
„Ich will keinen anderen. Es geht nicht darum, wieder einen Kerl zu haben, Carolin. Ihn will ich. Er ist es.”
„Warum?”
„Ich spüre es einfach.”
Eines Abends fuhr sie durch die Kastanienallee.
Serafin stand gestützt auf ihre Stöcke und starrte eine Villa an. Gesa bremste, ihr Herz klopfte heftig. Sie stieg aus und näherte sich langsam.
„Serafin?”, flüsterte sie. Er fuhr herum und da war es wieder, das unglaubliche Türkisblau.
Er schaute sie an und schwieg.
„Ich ...”, stammelte Gesa. „Ich habe meine Nordic Walking Stöcke vermisst.” Sie spürte, wie belämmert ihr Lächeln aussah, wusste auch, dass fleckige Röte ihr Gesicht unansehnlich machte und verstummte mit einer hilflosen Handbewegung.
Serafin nickte. „Hallo, Gesa, ich wollte die Stöcke am Wochenende zurückbringen. Ich hatte einiges zu erledigen, sonst wäre ich früher zu Ihnen gekommen.”
Gesa fragte sich, was ein Stadtstreicher wohl zu erledigen hätte. Er lachte. „Sie wundern sich wohl, was einer wie ich Dringendes zu tun hat.”
„Äh ...”
Serafin hatte sie ertappt. „Kommen Sie, gehen wir Kaffee trinken.”, sagte er.
In der kleinen Kneipe am Ende der Allee erklang aus der Jukebox ein Song der Dire Straits. Während sie auf den Kaffee warteten, sang Serafin leise mit.
Heal me with a smile, Darling Pretty
Heal me with a smile and a heart of gold
Carry me awhile, my Darling Pretty
Heal my aching heart and soul
Just like a castaway
Lost upon an endless sea
I saw you far away
Come to rescue me …
„Sie kennen den Text?” Gesa war fasziniert von diesem Mann.
„Ich war Pianist. Ich spielte das recht gern. Der Knopfler macht gute Musik.” Wieder zog ein Schatten von Traurigkeit über sein Gesicht.
„Wieso sind Sie es nicht mehr?”, wagte Gesa zu fragen.
„In dem Haus, vor dem ich gerade stand, wohnte ich. Meine Frau und meine Tochter sind vor vier Jahren bei einem Autounfall verunglückt.”
„Und dann?”, entfuhr es ihr unbeabsichtigt, sie schlug die Hand vor den Mund. „Entschuldigen Sie bitte.”
Er fuhr fort, als hätte er sie gar nicht gehört. „Deswegen lebe ich heute so.” Er trank einen Schluck Kaffee. „Ja, Gesa, es klingt merkwürdig, ich weiß. Ich bin regelrecht verrückt geworden, war monatelang in einer psychiatrischen Klinik. Posttraumatische Belastungsstörung heißt das. Als ich wieder halbwegs bei Sinnen war, hatte ich nichts mehr. Das Haus war vermietet, das Orchester hatte einen neuen Pianisten. Als Musiker war ich selbstständig gewesen. Aber ich erhalte den Obdachlosensatz vom Sozialamt, damit ich über die Runden komme. Ich bin eine gute Partie”, lachte er trocken. Serafin winkte der Kellnerin und zahlte.
„Ich könnte doch ...”, bot Gesa an.
„Es ist ein kleines Dankeschön”, antwortete er.
Vor dem Lokal reichte Serafin Gesa die Hand zum Abschied.
„Kann ich irgendwas für Sie tun?”, fragte sie.
„Sie haben bereits viel getan, Gesa. Sie haben mich ans Leben erinnert. Ich fange morgen als Pianist in einer Bar an. Und nächstes Wochenende bringe ich Ihnen die Stöcke wieder, wenn es recht ist.”
Er drehte sich um und ging davon. Gesa lächelte ihm hinterher und summte: „ … heal me with a smile …”
(c) ELsa Rieger
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11 Kommentare:
Fortsetzung bitte :)
Danle, liebe Juli, dein Begehr ist mir eine Freude!
Aber (!) die Geschichte ist hier aus :-)
Der Rest wird dem Leser überlassen.
Liebe Grüße
ELsa
sehr schön geschrieben, die Spannung bleibt bis zum Schluss, der auch noch offen bleibt :-)
lg
Karl
Danke, lieber Karl!
LG
ELsa
Nachtrag:
Die Geschichte muss offen bleiben am Ende, sonst wird sie zu kitschig :-)
LG
ELsa
ist das Leben nicht manchmal kitschig?
lg
Karl
Ja, sie muss offen bleiben, finde ich auch. Früher ersehnte ich nur ein Happy End. Mit zunehmendem Alter finde ich das auch kitschig und orientiere mich da wohl am echten Leben.
Es ist einmal wieder eine berührende Geschichte, liebe ELsa!
..grüßt dich Monika
Yepp, meine Liebe, sie muss offen bleiben ... seh ich genauso.
Du hast das schon gut, sehr gut gemacht ...
LiebGruß,
Mo
Lieber Karl, ja! sehr kitschig ;-)
Liebe Monika, wie lieb von dir, danke! Und ja, diese aufs Auge gedrückten Happyends, die mag ich auch nimmer.
Liebe Mo, danke, wie schön!
Liebe Grüße euch,
ELsa
Liebe Elsa,
eine fantastische Geschichte!
Das zeigt und wieder einmal, wie ungerecht über "Penner, Obdachlose, Sozialschmarotzer" geurteilt wird. Ich habe während meines Studiums als Sozialhelferin gearbeitet und viel mit diesen Leuten zu tun gehabt. Ihr Weg, der sie zu so einem Leben geführt hat, war so manches Mal erschütternd und hat ihnen den Boden für ein normales Leben regelrecht weg gezogen.
Danke für diese nachdenkenswerten Zeilen.
Mit lieben Grüßen
Anna-Lena (die sich schon sehr auf deinen Roman freut)
Liebe Anna-Lena,
Durch deine Berufserfahrung weißt du ja sehr gut, was ich hier ausdrücken wollte. Hab vielen Dank für deine Worte.
Das Buch wird bald auf die Reise gehen ;-)
Herzlich,
ELsa
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