3. Juli 2012



Auf die Palme!



„Palme“, stellt sie sich vor, „wie der Baum mit den Kokosnüssen und ich verspreche, Ihnen nicht auf die Nerven zu gehen.“ Sie lacht. Neunundsiebzig sei sie und wegen der Reparatur einer Sehne hier. „Wahrscheinlich“, sagt sie, während sie das zweite Bett in meinem Krankenzimmer belegt, „weil ich vierzig Jahre die Hemdenbügelmaschine mit dem Tretpedal bedient habe, da hat es auf einmal geschnalzt im Fuß, und weg war’s, die Sehne.“
Frau Palme ist eine kleine Schnelle mit kurzem, eisengrauem Haar und einem reizenden Lächeln. Ihre Augen schauen mich freundlich an. „Wenn ich Ihnen zu viel rede, sagen Sie einfach: Stopp! Blöde Angewohnheit von mir, immer red ich was daher.“
„Okay“, antworte ich, marod nach einem laproskopischen Eingriff.
Frau Palme lebt in Ottakring, dem klassischen Arbeiterbezirk Wiens, dem 16., im Gemeindebau. Sie und ihr Gatte kennen einander von Kind an und feiern demnächst den 60. Hochzeitstag. „Geh ich Ihnen schon auf die Nerven? Dann bin ich gleich still“, wirft sie ein. Aber ihr Lächeln ist einfach zauberhaft!
Dann wird sie endlich zur Operation weggeführt. Stunden vergehen, bis sie wiederkehrt.
Still ist sie, sichtlich erleichtert, denn alles ist gut.

Nachts verhält sie sich vorbildlich. Weder schnarcht sie (wie ihre Vorgängerin es tat), noch klingelt sie ständig nach den Schwestern (wie die Vorgängerin es tat), nein, ganz ruhig liegt sie, und ich kann schlafen. Gegen vier Uhr morgens wache ich auf. Sofort läutet sie nach der Schwester, weil sie dringend aufs Klo muss. „Meine Herrn, jetzt bin ich aber froh, dass Sie wach geworden sind!“ Sie seufzt vor Erleichterung.
„Warum haben Sie denn nicht früher ..., wenn es so dringend war?“ Ich.
„Aber geh, ich will doch keinen stören, der rekonvaleszent ist, das macht man doch nicht!“ Sie.
Was ist das für eine, diese Frau Palme? Gibt es so etwas überhaupt?, frage ich mich.
Ihr Mann, sommerhitzegeschwächt, kommt zu Besuch. Gleich nach dem Frühstück. „Editherl, mein armes, wie geht’s dir denn? Schau, ich hab dir die Kronenzeitung mitgebracht.“ Er küsst sie schweißtropfend und zärtlich auf die Stirn.
„Gut geht’s mir, mein Schatzerl, einen Spaltgips hab ich, und dich. Da kann’s mir garnet schlecht gehen.“ Sie lacht und befiehlt ihm gleich darauf, nicht jeden Tag zu kommen bei dieser Affenhitze.
„Aber du gehst mir doch so ab, Editherl.“ Er raunzt.
„Was hast denn gegessen gestern?“ Verhörton, etwas streng, von Frau Palme.
Er strahlt. „Na, was glaubst? Deine Fisolen natürlich, herrlich, mit einem Stückerl Brot, war super.“
„Und dass du mir nicht ins Gasthaus gehst, da verdirbst dir nur den Magen, Schatzerl. Ist eh genug eingefroren. Zweimal Krautfleisch, ein Gulasch, Schnitzerln hab ich dir drei hergerichtet, einzeln verpackt. Kannst dir ja immer ein paar Erdäpfeln dazu kochen, gell?“
Sie schickt ihn weg. „Damit er nicht in der Mittagshitze fahren muss, ist doch gefährlich für so einen alten Mann. Achja“, sagt sie, als wir wieder allein sind.
Wir unterhalten uns über die jeweiligen Wohngegebenheiten. Ich wohne mitten in der Stadt, die um diese Jahreszeit eine Gluthölle ist. Frau Palmes Gemeindebau verfügt über einen riesigen, begrünten Innehof. „Mit Tannen, die bis zum 5. Stock reichen“, sagt sie stolz, „und einmal, da ist ein Vogerl, eine Meise, ins Stiegenhaus geflogen und hat nimmer rausgefunden. Ist immer wieder gegen die Fenster geflogen und dann – bumm – ist sie am Boden gelegen. Ich hab’s in die Wohnung mitgenommen, s’Herz hat ganz wild geklopft, und bei mir aufs Fensterbrett gelegt.“
„Dann ist sie wohl gestorben?“
„Aber wo! Ich hab ihr Wasser auf den Schnabel getupft, damit der Schock vergeht. Da ist’s aufgewacht, bisserl sitzengeblieben. Wie ich gesehen hab, dass sie bei Verstand ist, hab ich’s Fenster aufgemacht und ... so schön, wie das Meiserl ganz hoch gestiegen ist in den Himmel.“ Frau Palme seufzt glücklich.
„Das finde ich toll. Dass Sie so was können, ich bin da unfähig.“
„Aber nein, ich mach das gern, ich mag die Viecherln. Erst vor ein paar Tagen find ich eine Jungbiene auf dem Gehsteig. Sie krabbelt hilflos auf dem Beton herum. Meine Güte, die wird keinen Honig mehr machen, denk ich mir, die wird zertreten werden.“ Nun kichert Frau Palme wie ein junges Ding, das etwas Verbotenes tun wird. „Hab’s mit einem Taschentuch vorsichtig aufgehoben und nach oben mitgenommen. Drei Tage hab ich sie am Fensterbrett mit Zuckerwasser von meinem Finger gefüttert, sie ist auf dem Fensterglas herumgekrabbelt, g’stochen hat sie mich aber nicht. Interessant, wie Bienen den Rüssel ausfahren zum Trinken. Naja, und dann hab ich sie fliegen lassen. Ja, ja das alles gibt’s in unserem Gemeindebauhof“, schließt sie.
In dieser Nacht wachen wir stets zugleich auf. Jede Stunde.
„Zwei Seelen“, sagt Frau Palme, „die sich leiden können.“
Das finde ich auch. Ich öffne Frau Palme mein Herz. Erzähle ihr von Lebensumständen, die ich niemandem anvertrauen würde. Und ich weiß überhaupt nicht, wieso ich das tue! Es rutscht einfach aus mir heraus. Wahrscheinlich hat mir die Narkose den Rest Verstand geraubt.
„Ach, Kinderl“, meint sie zwischendurch, „fair ist das ja alles nicht, tut mir so leid für Sie.“
Und ich weiß, sie meint es genauso.
„Ich bin zweiundsechzig“, lache ich.
„Meine Tochter auch“, antwortet sie. „Kinder sind immer Kinder für die Alten.“
Da hat sie recht.

Ich werde entlassen. Frau Palme weiß mittlerweile, dass es Bücher von mir gibt, das ist ja noch das Geringste, was sie über mich erfahren hat; sie liebt es, zu lesen. „Mein Schatzerl tut ja gern so Krimis im Fernsehen anschauen. Ich hab Buchstaben lieber.“ Sie gibt mir ihre Adresse und das Geld für eines meiner Bücher inklusive Porto. Einfach so.
Ich mag diese Frau, die mich nicht auf die Palme gebracht hat. Ganz im Gegenteil.


(c) ELsa Rieger (Text + Bild)



9 Kommentare:

Edith hat gesagt…

Also, dann warst du im Krankenhaus??? Menno, alles Liebe dir.
Aber nun bin ich mal gaaanz krass!
Es war gut, dass du dort warst, sonst wäre nienieniemals solch wunderevolle Geschichte entstanden, naja, ist doch so, lach...
Einfach mitreißend geschrieben!!!! Das ist das wahre Leben, keine Beschönigung, nix Verzerrtes, nur Erlebstes mit Herz geschrieben!!!

ElsieBeste, ich drück dich
total fest und lieb
deine Edith

Elsa Rieger hat gesagt…

Ja, liebe Edith, war ich. Ist aber alles wieder im grünen Bereich.
Geschichten aus dem Leben sind immer wieder schön. Wenn man Menschen wie Frau Palme kennenlernen darf, stimmt.

Ganz liebe Herzgrüße,
Elsie

syntaxia hat gesagt…

Dann hoffe ich, es ist wieder gut und bleibt auch so, liebe ELsa!!

Eine feine Begegnung, solche Menschen kann man ins Herz schließen und ihnen manches verzeihen.. ;-)

..grüßt dich Monika herzlichst

Edith hat gesagt…

..grüner Bereich klingt gut, lächel...trotzdem!!! Weiterhin alles Liebe auf noch Besseres!!!

deine Edith drückt dich total verrückt lieb:)

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Monika, liebe Rachel, ja, alles ist gut. Ich danke euch!

Herzlich, ELsa

Ulrike Jansen hat gesagt…

Liebste Elsa!
Eine sehr berührende Geschichte zwischen zwei Menschen, die sich nicht zufällig begegnet sind!
Alles hat seinen Sinn und Zeitpunkt im Leben.
Schön, dass es eine *Frau Palme* und dich gibt, weil ihr eine Bereicherung für die Menschheit seid :-)
Danke, dass du uns daran teilhaben läßt.
Bussi deine Ulrike :-)

Anonym hat gesagt…

Ach elsa, wie aus dem richtigen Leben.
Ist es ja wohl auch?
Wenn, dann wünsche ich dir gute Besserung.

Gruß
Barbara

Elsa Rieger hat gesagt…

Ganz lieben Dank dir, Ulrike!

Freut mich doch!

Busserln aus Wien, Elsa

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Barbara, ja, ist aus dem Leben, aber es geht mir schon besser, danke!

Liebe Grüße
Elsa

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