21. Juli 2012



Komm, tanz mit mir!

Widerstrebend verabschiedete sich Klara von den anderen auf der Party. Traurig machte sie vor allem, sich von Kurt trennen zu müssen. Er hatte sie heute das erste Mal geküsst. Schon lange war sie heimlich verliebt in ihn. Zweimal war er sitzengeblieben und dieses Jahr wiederholte er in Klaras Klasse. Endlich war er ihr heute auf der Geburtstagsparty der Schulkollegin nähergekommen! Und er küsste so gut!
Aber sie musste trotzdem heim; die meisten ihrer Freunde wohnten hier, in der Nähe des Gymnasiums, das sie alle besuchten. Klara warf einen Blick auf die Armbanduhr, dann sah sie Kurt an. Er lächelte und sagte: „Hey, ich bring dich, muss noch zwei Kumpels abholen, liegt auf dem Weg.“
Klaras Mitschüler neideten dem Älteren, dass er den Führerschein hatte. Zwar fuhr er eine Rostlaube, aber immerhin, er fuhr!
„Ehrlich?“, fragte Klara. Sie hörte bereits die vorwurfsvolle Stimme ihres Vaters, der sicher schon im Vorzimmer ruhelos auf- und abwanderte, wie jedes Mal, wenn seine ‚Puppe’ – wie er sie zärtlich nannte – abends ausging.
Wenn sie sich darüber ärgerte, sagte er: „Du bist knapp sechzehn, kleines Fräulein, also sei froh, dass du überhaupt ausgehen darfst. Und gib acht, dass dein Handy aufgeladen ist!“
Das Handy war leer, was jetzt keine Rolle mehr spielte, nachdem sie einen Chauffeur hatte, sie lachte und sagte: „Das wäre wahnsinnig cool von dir, danke!“ Es würde bestimmt noch einen Abschiedskuss vor Klaras Haus geben und morgen konnte sie ihren Freundinnen erzählen, dass da was lief. Sie würden ganz schön eifersüchtig sein, denn alle schwärmten für Kurt. Auf dem Weg zu seinem Auto legte er den Arm um Klaras Taille.
Sie sang leise vor sich hin:
I just wanna feel real love
In a life ever after
There's a hole in my soul
You can see it in my face …

Als der Song von Robby Williams auf der Party lief, hatten sie und Kurt dazu getanzt. Und dann hatte er sie zärtlich geküsst.

Sie kurvten durch Straßen eines Stadtteils, der Klara völlig unbekannt war. Die Kassette im Recorder spielte im Moment Hard Rock, nicht gerade ihre Musikrichtung, aber Kurt summte vergnügt mit. Gespräch wollte keines aufkommen, Klaras Versuche in die Richtung scheiterten, entweder er konnte oder wollte sich nicht unterhalten. An einer Straßenecke unter einer Laterne standen zwei Burschen, Kurt bremste. „Das sind sie“, sagte er.
Die Beiden stiegen hinten ein, warfen ein „Hey“ in die Runde und öffneten zwei Bierdosen. Der eine sagte nach einem gluckernden Schluck: „Klasse, dass du uns angerufen hast, Alter, das wird ja ein gepflegter Rausreißer für den öden Abend.“
„Bringst du mich jetzt nach Hause?“, fragte Klara.
„Na sicher doch!“, lachte Kurt und kniff sie in den Schenkel.     
Die Stimme ihres Vaters, die in ihrem Kopf mahnte: „Steig niemals zu Fremden in einen Wagen, Puppe, niemals!“, wischte Klara mit einem Zurückstreifen des Haars weg. Kurt war kein Fremder, er war ihr Klassenkamerad!
Doch nach einer Weile, als Kurt keine Anstalten machte, Richtung Innenstadt, sondern immer weiter in die Pampa hinauszufahren, dachte sie, shit. Das warnende Geflüster füllte ihren Kopf gänzlich aus: Ja, Puppe, shit, Puppe ... 
Sie räusperte sich, sagte mit fester Stimme und lauter, als sie wollte: „Hey, du, da bist du aber falsch gefahren!“
„So?“, sagte Kurt. Er grinste. Die beiden im Fond des Wagens kicherten vergnügt.
Sie hatte keine Idee, wo sie sich befanden. Jedenfalls weit außerhalb, da sie an Wiesen und Waldstücken vorbeifuhren. Klara roch bereits die Gefahr, durchwühlte ihr Gehirn nach einer Lösung.  Das Herz schlug so heftig, dass ihre Bluse vibrierte, die Hände waren kalt wie Eis, sie stemmte ihre Füße gegen den Boden, um die Schenkel ruhig zu halten, die gegeneinander schlagen wollten. Kann das tatsächlich der zärtliche Kurt aus ihren Träumen sein, dachte sie und schluckte trocken, ehe sie laut sagte: „Das wird aber ein ziemlicher Umweg ...“
Hinter ihr gluckste verhaltenes Kichern.
„Wir bringen dich schon heim. Später“, grinste Kurt und trat aufs Gas.
Neben der Angst spürte sie Wut hochsteigen. Sie biss die Zähne zusammen, ballte ihre Hände zu Fäusten, befahl sich streng, ruhig zu bleiben.
Die Straße wurde holpriger, schließlich zum Schotterweg und dann blieb der Wagen stehen.
Klara registrierte hinter dem kleinen Wäldchen am Rand des Wegs Licht, das aus einem Wohnhaus kommen musste.

„Jetzt machen wir Party, Klara, aber echt!“, sagte Kurt.
Klara verbarg ihr Entsetzen hinter einem Lächeln und meinte, so freundlich es ihr möglich war: „Ich glaube, das ist jetzt keine gute Idee, ich sollte nämlich längst zu Hause sein. Könnten wir nicht morgen ...? Da hätte ich gut Zeit, ja?“
Die drei Burschen schütteten sich aus vor Lachen und Kurt schüttelte den Kopf.
„Ach ne, du! Wir feiern die Feste, wie sie fallen. Heute fällst sozusagen du“, sagte er und schob seine Hand unter ihren Rock.
„Was denn, hier?“, meinte sie und bot all ihre Selbstbeherrschung auf, um gelassen zu klingen. Sie griff nach dem Türöffner, doch die Hand des Mistkerls war schneller.
„Ja, hier“, sagte er bestimmt. Dann wandte er sich um zu seinen Kumpels, fragte: „Wer fängt an?“
Die beiden grinsten immer noch blöde, zuckten mit den Achseln.

Klara atmete tief ein. Sie ließ ein schrilles Lachen ertönen, versuchte aber ihre Stimme unter Kontrolle zu behalten. „Ach ihr! Ich würde sagen, ich fange an!“
Sie drehte die Musik zur vollen Lautstärke auf und schrie: „Sichert euch die guten Plätze, Jungs!“
Diesmal hinderte Kurt sie nicht daran, auszusteigen, wahrscheinlich kam sie ihm total durchgeknallt vor. Draußen auf der Wiese tanzte sie zur dröhnenden Musik, gab sich amüsiert, lachte so laut, dass ihr die Kehle schmerzte. Klaras kurzes Röckchen schwang im Rhythmus ihrer Bewegung mit, ihre Arme flatterten hoch, streckten sich nach dem dunklen Sternenhimmel aus. Schrittchenweise hüpfte sie Zentimeter um Zentimeter vom Wagen fort auf das Wäldchen zu, hinter dem das Licht warm leuchtete.
Die drei lehnten am Auto, schauten mit offenem Mund zu. Nur wenige Meter trennten Klara noch von den ersten Bäumen, da rief Kurt: „Hey, komm zurück!“ Mit ein paar Schritten war er neben ihr, packte sie am Nacken, legte seinen Mund an ihr Ohr und zischte scharf: „Du wirst uns doch nicht den Spaß verderben!“
Sie neigte den Kopf zur Seite, riss die Augen auf, kicherte dümmlich. „Aber Kurt, was meinst du denn? Komm, tanz mit mir! Allein ist das so was von öd.“
Sie zerrte ihn zum Auto zurück, innerlich förmlich auseinanderfallend angesichts der Vereitelung ihres Fluchversuchs. Fest umklammerte Kurt ihre Hüften und sang den nächsten Song bruchstückhaft mit: „I just wanna feel real love, tatatamtam …“
Blitze der Erinnerung zuckten durch ihr Hirn, ihr Herz, sie sah die Party vor sich, Kurt, der ihr dort vor einigen Stunden seine ‚real love’ offenbarte. Sie spürte für einen Moment seinen zärtlichen ersten Kuss auf den jetzt ausgetrockneten Lippen.
In diesem Moment drückte Kurt ihren Kiefer zusammen, er zog ihr Gesicht zu sich, wollte seine Zunge in ihren Mund stecken. Klara stieg ihm kräftig auf den Fuß, Kurt ließ überrascht los. Sie prustete: „Oops! Verzeihung“, drehte sich weg. Nun presste er sie von hinten an sich, sie spürte, wie er sein hartes Geschlecht an ihrem Po rieb. „Na, Süße, bringen wir’s hinter uns ...“, sagte er in ihrem Rücken. 
Ihr Blick glitt zu den vor Gier verzerrten Gesichtern der beiden Zuseher und über deren Köpfe hinweg.
Da veränderte sich Klaras mühsam aufrecht erhaltenes eingefrorene Bühnenlächeln. Ihr panisches, nervenzerfetzendes Schreien gellte scharf wie splitterndes Glas durch die Nacht, als sie ihren Tänzer zu Boden riss, sich rittlings auf ihn setzte und die Hände in seinem Haar verkrallte. Nun schrie auch er, schmerzgepeinigt unter Klaras mörderischem Griff. Geradezu lustvoll erklang ihr Brüllen – eine Tigerin, die das Opfer umhalste, nie mehr freigeben würde.

Die beiden Polizisten mühten sich ab, die Finger des Mädchens aus Kurts Haaren herauszulösen, immer noch wollte sie festhalten, die Umklammerung der Rache genießen. Büschelweise klebten seine Haare an ihren schweißnassen Fingern. 

Der Besitzer des Waldhauses hatte die Polizei alarmiert, als er die laute Musik durch sein Wäldchen dröhnen gehört hatte, erzählte ihr einer von ihnen, der Klara in eine Decke hüllte. Sie zitterte, aber ihre Rechnung war aufgegangen. Kaum hatte sie das Blaulicht erspäht, war sie zur Vollstreckerin geworden.
Der Leiter des Einsatzkommandos sagte zu ihr, ehe er sie nach Hause bringen ließ: „Sie haben sehr viel Glück gehabt, junge Dame.“
Klara nickte stumm, während ihr Herz brach.

(c) ELsa Rieger
Bild: (c) Lilya Corneli

3 Kommentare:

syntaxia hat gesagt…

Himmeldieberge!!!!!
Du kannst es, liebste ELsa. Mein Herz hat geklopft....

..grüßt dich Monika herzlich

Edith hat gesagt…

Elsie,

ich bin hin und weg!!!! Endlich kann ich wieder atmen, das war soooo spannend zu lesen, so eindrucksvoll geschrieben. Du lässt miterleben in Bildern, die durch den Kopf wandern...

Elsiebeste, du bist einfach GENIAL!!!

Ich drück dich lieb
herzlichst
deine Rachel

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebste Monika, liebste Rachel,

Hui, über das Echo freu ich mich sehr! Ihr habt mir einen schönen Sonntag bereitet, danke von Herzen!

Liebe Grüße,
eure ELsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

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