Komm, tanz mit mir!
Widerstrebend verabschiedete sich Klara
von den anderen auf der Party. Traurig machte sie vor allem, sich von Kurt
trennen zu müssen. Er hatte sie heute das erste Mal geküsst. Schon lange war sie
heimlich verliebt in ihn. Zweimal war er sitzengeblieben und dieses Jahr
wiederholte er in Klaras Klasse. Endlich war er ihr heute auf der
Geburtstagsparty der Schulkollegin nähergekommen! Und er küsste so gut!
Aber sie musste trotzdem heim; die
meisten ihrer Freunde wohnten hier, in der Nähe des Gymnasiums, das sie alle
besuchten. Klara warf einen Blick auf die Armbanduhr, dann sah sie Kurt an. Er
lächelte und sagte: „Hey, ich bring dich, muss noch zwei Kumpels abholen, liegt
auf dem Weg.“
Klaras Mitschüler neideten dem
Älteren, dass er den Führerschein hatte. Zwar fuhr er eine Rostlaube, aber
immerhin, er fuhr!
„Ehrlich?“, fragte Klara. Sie hörte
bereits die vorwurfsvolle Stimme ihres Vaters, der sicher schon im Vorzimmer
ruhelos auf- und abwanderte, wie jedes Mal, wenn seine ‚Puppe’ – wie er sie zärtlich
nannte – abends ausging.
Wenn sie sich darüber ärgerte,
sagte er: „Du bist knapp sechzehn, kleines Fräulein, also sei froh, dass du
überhaupt ausgehen darfst. Und gib acht, dass dein Handy aufgeladen ist!“
Das Handy war leer, was jetzt keine
Rolle mehr spielte, nachdem sie einen Chauffeur hatte, sie lachte und sagte:
„Das wäre wahnsinnig cool von dir, danke!“ Es würde bestimmt noch einen
Abschiedskuss vor Klaras Haus geben und morgen konnte sie ihren Freundinnen
erzählen, dass da was lief. Sie würden ganz schön eifersüchtig sein, denn alle
schwärmten für Kurt. Auf dem Weg zu seinem Auto legte er den Arm um Klaras
Taille.
Sie sang leise vor sich hin:
I just wanna feel real love
In a life ever after
There's a hole in my soul
You can see it in my face …
Als der Song von Robby Williams auf
der Party lief, hatten sie und Kurt dazu getanzt. Und dann hatte er sie
zärtlich geküsst.
Sie kurvten durch Straßen eines
Stadtteils, der Klara völlig unbekannt war. Die Kassette im Recorder spielte im
Moment Hard Rock, nicht gerade ihre Musikrichtung, aber Kurt summte vergnügt
mit. Gespräch wollte keines aufkommen, Klaras Versuche in die Richtung
scheiterten, entweder er konnte oder wollte sich nicht unterhalten. An einer
Straßenecke unter einer Laterne standen zwei Burschen, Kurt bremste. „Das sind
sie“, sagte er.
Die Beiden stiegen hinten ein,
warfen ein „Hey“ in die Runde und öffneten zwei Bierdosen. Der eine sagte nach
einem gluckernden Schluck: „Klasse, dass du uns angerufen hast, Alter, das wird
ja ein gepflegter Rausreißer für den öden Abend.“
„Bringst du mich jetzt nach
Hause?“, fragte Klara.
„Na sicher doch!“, lachte Kurt und
kniff sie in den Schenkel.
Die Stimme ihres Vaters, die in
ihrem Kopf mahnte: „Steig niemals zu Fremden in einen Wagen, Puppe, niemals!“,
wischte Klara mit einem Zurückstreifen des Haars weg. Kurt war kein Fremder, er
war ihr Klassenkamerad!
Doch nach einer Weile, als Kurt
keine Anstalten machte, Richtung Innenstadt, sondern immer weiter in die Pampa
hinauszufahren, dachte sie, shit. Das warnende Geflüster füllte ihren Kopf
gänzlich aus: Ja, Puppe, shit, Puppe ...
Sie räusperte sich, sagte mit
fester Stimme und lauter, als sie wollte: „Hey, du, da bist du aber falsch
gefahren!“
„So?“, sagte Kurt. Er grinste. Die beiden
im Fond des Wagens kicherten vergnügt.
Sie hatte keine Idee, wo sie sich
befanden. Jedenfalls weit außerhalb, da sie an Wiesen und Waldstücken
vorbeifuhren. Klara roch bereits die Gefahr, durchwühlte ihr Gehirn nach einer
Lösung. Das Herz schlug so heftig, dass ihre
Bluse vibrierte, die Hände waren kalt wie Eis, sie stemmte ihre Füße gegen den
Boden, um die Schenkel ruhig zu halten, die gegeneinander schlagen wollten.
Kann das tatsächlich der zärtliche Kurt aus ihren Träumen sein, dachte sie und
schluckte trocken, ehe sie laut sagte: „Das wird aber ein ziemlicher Umweg ...“
Hinter ihr gluckste verhaltenes
Kichern.
„Wir bringen dich schon heim.
Später“, grinste Kurt und trat aufs Gas.
Neben der Angst spürte sie Wut
hochsteigen. Sie biss die Zähne zusammen, ballte ihre Hände zu Fäusten, befahl sich
streng, ruhig zu bleiben.
Die Straße wurde holpriger, schließlich
zum Schotterweg und dann blieb der Wagen stehen.
Klara registrierte hinter dem
kleinen Wäldchen am Rand des Wegs Licht, das aus einem Wohnhaus kommen musste.
„Jetzt machen wir Party, Klara,
aber echt!“, sagte Kurt.
Klara verbarg ihr Entsetzen hinter
einem Lächeln und meinte, so freundlich es ihr möglich war: „Ich glaube, das ist
jetzt keine gute Idee, ich sollte nämlich längst zu Hause sein. Könnten wir
nicht morgen ...? Da hätte ich gut Zeit, ja?“
Die drei Burschen schütteten sich aus
vor Lachen und Kurt schüttelte den Kopf.
„Ach ne, du! Wir feiern die Feste, wie sie fallen. Heute fällst
sozusagen du“, sagte er und schob seine Hand unter ihren Rock.
„Was denn, hier?“, meinte sie und
bot all ihre Selbstbeherrschung auf, um gelassen zu klingen. Sie griff nach dem
Türöffner, doch die Hand des Mistkerls war schneller.
„Ja, hier“, sagte er bestimmt. Dann
wandte er sich um zu seinen Kumpels, fragte: „Wer fängt an?“
Die beiden grinsten immer noch
blöde, zuckten mit den Achseln.
Klara atmete tief ein. Sie ließ ein
schrilles Lachen ertönen, versuchte aber ihre Stimme unter Kontrolle zu
behalten. „Ach ihr! Ich würde sagen, ich fange an!“
Sie drehte die Musik zur vollen
Lautstärke auf und schrie: „Sichert euch die guten Plätze, Jungs!“
Diesmal hinderte Kurt sie nicht
daran, auszusteigen, wahrscheinlich kam sie ihm total durchgeknallt vor. Draußen
auf der Wiese tanzte sie zur dröhnenden Musik, gab sich amüsiert, lachte so
laut, dass ihr die Kehle schmerzte. Klaras kurzes Röckchen schwang im Rhythmus
ihrer Bewegung mit, ihre Arme flatterten hoch, streckten sich nach dem dunklen
Sternenhimmel aus. Schrittchenweise hüpfte sie Zentimeter um Zentimeter vom
Wagen fort auf das Wäldchen zu, hinter dem das Licht warm leuchtete.
Die drei lehnten am Auto, schauten
mit offenem Mund zu. Nur wenige Meter trennten Klara noch von den ersten
Bäumen, da rief Kurt: „Hey, komm zurück!“ Mit ein paar Schritten war er neben
ihr, packte sie am Nacken, legte seinen Mund an ihr Ohr und zischte scharf: „Du
wirst uns doch nicht den Spaß verderben!“
Sie neigte den Kopf zur Seite, riss
die Augen auf, kicherte dümmlich. „Aber Kurt, was meinst du denn? Komm, tanz
mit mir! Allein ist das so was von öd.“
Sie zerrte ihn zum Auto zurück,
innerlich förmlich auseinanderfallend angesichts der Vereitelung ihres
Fluchversuchs. Fest umklammerte Kurt ihre Hüften und sang den nächsten Song
bruchstückhaft mit: „I just wanna feel real love, tatatamtam …“
Blitze der Erinnerung zuckten durch
ihr Hirn, ihr Herz, sie sah die Party vor sich, Kurt, der ihr dort vor einigen
Stunden seine ‚real love’ offenbarte. Sie spürte für einen Moment seinen
zärtlichen ersten Kuss auf den jetzt ausgetrockneten Lippen.
In diesem Moment drückte Kurt ihren
Kiefer zusammen, er zog ihr Gesicht zu sich, wollte seine Zunge in ihren Mund
stecken. Klara stieg ihm kräftig auf den Fuß, Kurt ließ überrascht los. Sie
prustete: „Oops! Verzeihung“, drehte sich weg. Nun presste er sie von hinten an
sich, sie spürte, wie er sein hartes Geschlecht an ihrem Po rieb. „Na, Süße,
bringen wir’s hinter uns ...“, sagte er in ihrem Rücken.
Ihr Blick glitt zu den vor Gier
verzerrten Gesichtern der beiden Zuseher und über deren Köpfe hinweg.
Da veränderte sich Klaras mühsam
aufrecht erhaltenes eingefrorene Bühnenlächeln. Ihr panisches, nervenzerfetzendes
Schreien gellte scharf wie splitterndes Glas durch die Nacht, als sie ihren
Tänzer zu Boden riss, sich rittlings auf ihn setzte und die Hände in seinem
Haar verkrallte. Nun schrie auch er, schmerzgepeinigt unter Klaras mörderischem
Griff. Geradezu lustvoll erklang ihr Brüllen – eine Tigerin, die das Opfer
umhalste, nie mehr freigeben würde.
Die beiden Polizisten mühten sich
ab, die Finger des Mädchens aus Kurts Haaren herauszulösen, immer noch wollte
sie festhalten, die Umklammerung der Rache genießen. Büschelweise klebten seine
Haare an ihren schweißnassen Fingern.
Der Besitzer des Waldhauses hatte
die Polizei alarmiert, als er die laute Musik durch sein Wäldchen dröhnen
gehört hatte, erzählte ihr einer von ihnen, der Klara in eine Decke hüllte. Sie
zitterte, aber ihre Rechnung war aufgegangen. Kaum hatte sie das Blaulicht erspäht,
war sie zur Vollstreckerin geworden.
Der Leiter des Einsatzkommandos
sagte zu ihr, ehe er sie nach Hause bringen ließ: „Sie haben sehr viel Glück
gehabt, junge Dame.“
Klara nickte stumm, während ihr Herz brach.
(c) ELsa Rieger
Bild: (c) Lilya Corneli
3 Kommentare:
Himmeldieberge!!!!!
Du kannst es, liebste ELsa. Mein Herz hat geklopft....
..grüßt dich Monika herzlich
Elsie,
ich bin hin und weg!!!! Endlich kann ich wieder atmen, das war soooo spannend zu lesen, so eindrucksvoll geschrieben. Du lässt miterleben in Bildern, die durch den Kopf wandern...
Elsiebeste, du bist einfach GENIAL!!!
Ich drück dich lieb
herzlichst
deine Rachel
Liebste Monika, liebste Rachel,
Hui, über das Echo freu ich mich sehr! Ihr habt mir einen schönen Sonntag bereitet, danke von Herzen!
Liebe Grüße,
eure ELsa
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