5. November 2012


Rock'n'Roll. Ein Mann findet seinen Weg.


Leseprobe:
Eine Begegnung der dritten Art

Am nächsten Morgen, als er durch den Hydepark joggte, hörte er plötzlich hinter sich rufen: „Good morning, my friend!“
Paul lief weiter.
Der Unbekannte hängte sich an seine Fersen. Keuchend stieß er hervor: „Hey man! Stop!“
Jetzt liefen sie auf gleicher Höhe. Aus dem Augenwinkel bemerkte Paul, dass dünne Zöpfe um den Kopf des anderen auf und ab hüpften.
Mit letzter Kraft flüsterte der Erschöpfte heiser: „Ich sah dich in Eddies Bar gestern im Abend. Tust du erinnern?“
Paul lief langsamer, blieb schließlich stehen. Der Zöpfchenmann warf sich schwer atmend auf den feuchten Rasen.
„O boy! Furchtbar! Churchill sagte: No sports. Er hatte recht.“
Paul dehnte sich und rieb die Beinmuskulatur mit Franzbranntwein ein, den er stets in einem kleinen Fläschchen mit sich trug.
„Stinkt wie Katzenpisse“, sagte Bob M. Henderson. Er grinste. „Katzenpisse ist ein schönes deutsches Wort, ist es nicht?“
Paul ergriff Bobs ausgestreckte Hand und zog ihn hoch.
„Danke, mein Freund. Wir sollten trinken ein Bier zusammen.“ Bob verzog das Gesicht und wischte die Hand im Gras ab. „Terrible.“
Paul schaute griesgrämig drein.
Bob zuckte die Schultern, „Never mind.“
Gemeinsam schlenderten sie durch den Hydepark.
„Was bedeutet das M in deinem Namen?“, fragte Paul.
„Marley. Bob Marley! Rastaman, Sänger, Musiker, du verstehst? Reggae.“
„Ja, ja, ich kenne Bob Marley. Er ist tot, das arme Schwein.“
„Sie haben ihn gebracht um!“, empörte sich Bob.
„Der hat sich ganz allein umgebracht, mein Lieber! Mit Haschisch.“
„What!?“
„Na, Drogen!“
Energisch schüttelte Bob den Kopf, so dass die Zöpfe wie ein Karussell um ihn herumkreiselten.
„Nein, Mann! Von das Dope man stirbt nicht! Er ist gemordet!“
„Wir wollen nicht streiten“, lenkte Paul ein, „Bob Marley war ein wunderbarer Musiker“, sagte er mit Nachdruck.
Bob nickte besänftigt. Sie hatten den Park verlassen und Bob ging zielstrebig auf eine Harley Davidson zu.
„Sie heißt Lizzy, gefällt?“
Der Rahmen war mit roten und weißen Glühlämpchen verziert, auf dem ganzen Motorrad glitzerte applizierter Chrom- und Messingschmuck.
Bob klopfte auf die golden glänzende Rückenlehne.
„Gold! 14 Karat. Es ist gut, ist es nicht?“
„Großartig“, meinte Paul ungläubig.
Bob schwang sich auf den Sitz und startete.
„Komm!“
Paul umklammerte Bobs Hüften. Röhrend setzte sich das Monstrum in Bewegung. Er saß zum ersten Mal auf einer solchen Maschine und war angenehm überrascht, wie komfortabel das Fahrgefühl war. Paul fühlte sich frei und glücklich, er brüllte in Bobs Ohr: „Wonderful!“
„Yeah!“, schrie dieser zurück.



Die zauberhafte Hexe

Vor einem stillgelegten Fabriksgebäude nahe Notting Hill hielt Bob an.
„My castle.“
„Ah“, sagte Paul. Es freute ihn, dass er zum Joggen nur ein paar Münzen eingesteckt hatte. Die vier Typen, die rauchend vor dem Haustor standen, erweckten nicht gerade sein Vertrauen. Bob nickte ihnen zu. Paul folgte ihm eilig ins Haus. Die ehemalige Werkshalle der Fabrik war in Wohneinheiten unterteilt und ausgebaut worden. Einige Türen standen offen, Paul sah im Vorbeigehen auf Staffeleien und Scheinwerfer.
Am Ende des Flurs stiegen sie in einen Lastenaufzug.
„Hier leben nur Maler und Photographers. Du hast einigen von ihnen eben gesehen in die Straße, wie sagt man: to gasp for breath?“
„Zum Luftschnappen“, übersetzte Paul.
Noch ein Wort, das Bob zum Lachen brachte. Er wiederholte es einige Male, bis er es intus hatte. Ganz oben angekommen, öffnete er eine blaulackierte Tür. Beim Eintreten schnappte Paul nach Luft. Ein großer heller Raum eröffnete sich ihm, an den Wänden lehnten unzählige Leinwände.
Weißlackierte Dielen trennten den Schlafbereich vom Atelier mit den schwarz-weißen Fliesen, auf denen ein drei Meter langer Arbeitstisch stand. Ein Durcheinander aus Farbtuben, Paletten, Dosen und Tiegeln, daneben zwei unfertige Gemälde, jedes auf einer Staffelei.
„Maler?“, fragte Paul überrascht, er hatte in Bob einen Fotografen vermutet.
Inmitten des Ateliers befand sich eine Landschaft aus grünen Cordsamtpolstern, umgeben von Beistelltischchen mit Büchern, Zeitschriften und überquellenden Aschenbechern.
Das ist ja ein ganz armer Schlucker, dachte Paul, als er den original japanischen Futon in der Ecke sah. Er wusste, wie teuer sie waren. Jetzt glaubte er auch an die vergoldete Rückenlehne. Gegenüber, auf einem schwarz gefliesten Podest, war eine Küche eingepasst. An der langen Wand zwischen Küche und Futon stand ein großer Würfel aus Milchglas.
„Das Badraum“, erklärte Bob, der mit zwei Flaschen Bier vom Küchenpodest sprang. Sie versanken in der Sitzlandschaft. Paul erschlug der Luxus. Wenn der Typ nicht kaffeebraun wäre, hätte er auch noch ein Solarium.
Bob prostete ihm zu.
„Du musst meine Bilder sehen, später.“
„Unbedingt.“ Paul platzte fast vor Neugier auf die Bilder, die ein derart exklusives Leben ermöglichten. Er musste für seine Prämien monatelang hart arbeiten. Er sah Bob beim Stopfen einer Meerschaumpfeife zu und trank einen großen Schluck Bier. Die Tür wurde aufgerissen. Unfähig bei dem Anblick des Mädchens zu denken, starrte Paul sie an.
„Hi, Sam. Samantha – Paul, Paul – Samantha“, stellte Bob vor.
Die feenhafte Schönheit hauchte Paul mit „Hi“ an.
„Samantha ...“, stotterte Paul.
Sie ließ sich auf das Kissen neben ihm nieder.
„Was ist mit dir, mein Freund?“, fragte Bob besorgt.
„She looks like an angel ...“
Samanthas Lachen perlte durch das Zimmer, „Thank’s!“
„My Goodness! Sie ist eine Hexe!“ Bob verdrehte die Augen.
„Und wenn sie der Teufel persönlich wäre ... eine Stunde mit ihr tausche ich gegen meine Seele.“
Sein Blick glitt über das schimmernde Haar. Es reichte ihr bis zu den schmalen Hüften. Ihre schrägstehenden grünen Augen blitzten. Paul hörte nicht auf das, was sie zu Bob sagte, so sehr war er in ihren Anblick versunken.
Als sie sich verabschiedete, erhob er sich.
„Is it possible to see you tonight?”, fragte er sie.
„Ich nehme dich Morgen mit auf diese Party. Sam wird dort sein“, sagte Bob.
„Ich habe noch nie eine so schöne Frau gesehen.“
Paul taumelte zum Sofa zurück.
„Du musst lassen die Finger davon. Sie verdreht dir nicht nur die Kopf, sie reißt ihn dir ab.“ (...)

Elsa Rieger, Rock'n'Roll

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4 Kommentare:

Edith hat gesagt…

Elsie,

und wieder bin ich total beeindruckt von dieser wunderbaren Erzählerin, die du bist!!!

ich drück dich lieb
deine Rachel

Elsa Rieger hat gesagt…

Oh, wie lieb von dir, meine liebe Rachel, da strahl ich einmal mehr, hach!

Ich drück dich herzlich,
deine Elsa

syntaxia hat gesagt…

Ich mag nicht gern lesen, längere Texte schrecken mich schon ab. Aber wenn ich bei dir lese, muss ich fertig lesen! Da vergesse ich, dass ich nicht gern lese - ich vergesse überhaupt dass ich lese, ich bin sofort drin in deiner Geschichte!
Danke dafür!!
Möge es vielen LeserInnen ebenso gehen und du viel Erfolg damit haben, liebe ELsa!

..grüßt dich Monika herzlich

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Monika,

was für ein herzerfrischender Kommentar, hab vielen Dank, du Liebe!

Liebe Grüße
ELsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

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