29. Juli 2009
Im zweiten Stock
Die Familie Spanninger hat im zweiten Stock gewohnt. Vater, Mutter und drei Kinder. Mit denen haben wir gespielt. Im Stiegenhaus. Unsere Familie lebte im dritten Stock eines klassischen Bürgerhauses mitten in Wien. Eigentlich hatte es fünf Stockwerke, offiziell aber nur drei, denn zu Zeiten der Monarchie durften die Häuser nicht mehr Etagen haben. Das wussten die Bauherren zu umgehen, indem sie Mezzanin, Hochparterre und Dachgeschoß titulierten, was in Wahrheit eigene Stöcke waren inklusive Wohnungen. Vier Wohnungen auf jeder Ebene gab es.
Im Stiegenhaus spielten mein Bruder und ich mit den Kindern der Spanningers. Der Vater war bei der SS gewesen; einmal habe ich ein Foto von ihm in schwarzer Uniform auf der Kredenz bei ihnen gesehen. Jetzt führte er die Tabaktrafik unten im Haus. Die Wohnung gehörte vorm Krieg einem jüdischen Ehepaar, das im Vierundvierzigerjahr auf einen Lastwagen verladen wurde. Außer einem Koffer mit dem Nötigsten durften sie nichts mitnehmen. Die zurückgebliebenen Werte gehörten nun den Spanningers. So war das bei uns im Haus. Gestern, kommt mir vor, dabei ist das alles ewig her.
Damals war ich noch gar nicht auf der Welt. Meine Mutter und ihre Schwester spielten zu dieser Zeit im Stiegenhaus. Sie rutschten auf dem Hintern die glatten Steinstufen hinab. Meine Großmutter stellte bei Fliegeralarm den Topf mit den Erbsen unter die Bettdecke, um sie fertig zu garen, wenn das Gas ausging und alle in den Keller liefen, um die Bomben zu überleben.
Weil meine Mutter die Deportierung des Ehepaares vom zweiten Stock mitansah, legte sie ihre Mitgliedschaft beim Bund Deutscher Mädchen zurück. Meine Großmutter traf fast der Schlag vor Angst. Aber es passierte nichts weiter, wahrscheinlich nahm man Kinder damals genauso wenig ernst wie heute.
Die Spanningers aus dem zweiten sind mittlerweile tot. Das jüdische Ehepaar aber noch viel länger …
by ELsa
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5 Kommentare:
Auch ich habe keine unmittelbare Erinnerung an diese Zeit, obwohl ich im Vierundvierzigerjahr schon drei Jahre alt war. Zur Zeit der schlimmsten Fliegerangriffe 44/45 war ich zudem mit meiner Mutter nahe des Schwarzwalds evakuiert. Aber jedes Mal, wenn ich Zeitberichte über die Jahre zwischen 1941 und 1945 lese oder wenn ich entsprechende Gedenkstätten besuche, überkommt mich eine regelrechte Übelkeit wegen dem, was meine Landsleute den Juden in dieser Zeit angetan haben. Auf einer Fahrradtour von Passau nach Wien habe ich es sogar vermieden, dem KZ Mauthausen einen Besuch abzustatten, was beileibe kein Abtun der Greueltaten bedeutet hat. Gut, dass Du das Thema zur Sprache gebracht hast.
Liebe Grüße
Helmut
Lieber Helmut,
Ich lebe immer noch in besagtem Haus, das hält die Erinnerungen (auch meiner Ahnen) aufrecht. Ist auch gut so. Man darf es nicht vergessen, schon deswegen nicht, weil man einen Vergleich ziehen kann, dass die Menschheit heute auch nicht viel besser gelagert ist in vielen Ländern dieser Welt.
Ich glaube nicht, dass man unbedingt ein KZ besuchen muss, um die Greuel zu verinnerlichen. Denn sie liegen in der Luft. Immer noch.
Lieben Dank und Gruß
ELsa
Und weil es diese Zeit gab (teils auch vor unserer Zeit) müssen wir diese beschämende Erfahrung immer wieder an die Jugend weitergeben, damit so etwas nie wieder passiert.
Ich bin immer entsetzt, wie wenig unsere Schüler aus der Zeit der DDR wissen und wie gering das Interesse bei vielen ist. Selbst, wenn sie erst nach der Wende geboren sind, könnten die Eltern und Großeltern viel darüber erzählen.
Nachdenkliche Grüße
Anna-Lena
Das lese ich mit Gänsehaut, liebe ELsa.
Ich bin wohl zu zart besaitet, um mich mit dieser Vergangenheit zu bschäftigen. Das war ein großes Probem für mich in der Schule.
Ich konnte und kann nicht verstehen, warum Menschen so handeln. Ach, ich verstehe so vieles nicht.. :-(
..grüßt dich Monika bedrückt
Liebe Anna-Lena, liebe Monika,
es ist zweifellos ein bedrückendes Thema. Solange es noch nicht "Geschichte" ist, wie Napoleons Feldzüge beispielsweise oder der Dreißigjährige Krieg, muss es verarbeitet werden. Dazu gehört für mich, darüber zu reflektieren.
Lieben Gruß,
ELsa
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