9. November 2008



Tante Klara ...

... lebt heute unterm Zuckerhut. Das Gesicht verschattet von einem Borsalino aus Stroh, um den sie eine Schleife geschlungen hat, sitzt sie, siebenundachtzigjährig, die meiste Zeit auf dem Balkon. Manchmal steht die Nachbarin an der Brüstung, dann unterhalten die Damen sich ein paar Minuten auf portugiesisch.

Die deutsche Sprache hat es Klara früh verschlagen. Das war am 9. November 38 in Wien. Mit siebzehn. Sie lernte damals die Modisterei, entwarf zauberhafte Hüte für die Damen der Herren, die an besagtem Tag durch die Straßen marschierten und aus simplem Fensterglas Kristall machten, wie es später hieß.
Vor dem Haus Köllnerhofgasse 6 im 1. Wiener Gemeindebezirk, in dem Klara wohnte, waren sie und andere zusammen getrieben worden. Sie zitterte in ihrem Nachthemd und einer der Herren kniff sie in die Wange. Schönes Kind, sagte er, nenne mir einfach einen anderen Juden, den wir statt deiner mitnehmen sollen.

In Buchenwald erhielt sie Lagerkleidung. Später heiratete sie einen jener amerikanischen Soldaten, die sie befreit hatten. Er störte sich nicht daran, dass ihr Haar nach den Jahren im Lager grau geworden war.

Ausgewandert nach Rio, der Geburtsstadt ihres Retters, wollte Klara wieder Hüte machen, aber ihre Hände hörten nicht auf zu zittern.


by ELsa

8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich las... ich schweig.
Nur dies: Menschen.

Gruß
Petros

Elsa Rieger hat gesagt…

Danke!

LG
ELsa

Anonym hat gesagt…

Immer wieder erschüttern mich diese Berichte. Am 11.9. als der Anschlag in Amerika war, habe ich das erste Mal im Leben ein Gefühl davon bekommen, wie ohnmächtig wir sind..
Und ich denke an meine Oma.. sie war auch Hutmacherin.
Ihr Schicksal so ganz anders, eine sehr harte Frau, die Gehorsam von ihren Kindern und Enkelkindern erwartete..

..grüßt Monika

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Monika,

das ist ja interessant, dass du eine Hutmacherin zur Oma hattest, die wiederum eine ganz andere Entwicklung nahm...

Lieben Gruß
ELsa

Anonym hat gesagt…

Nun verstehe ich Deine Gedanken (beim Lesen meiner Meditation des Absurden), "warum es ist, wie es ist auf der Welt" noch besser.

Liebe Grüße
Helmut

Elsa Rieger hat gesagt…

Lieber Helmut,

Danke dir, das freut mich sehr.

Herzlich,
ELsa

Anonym hat gesagt…

liebe elsa,

dieser text berührt mich total.
vor allem der letzte satz.

alles liebe dir
gerda

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Gerda,

Herzlichen Dank, schön, dass du hereingeschaust!

Lieben Gruß
Elsa

Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

Lesbares - Sichtbares

Follower

Über mich

Blog-Archiv